Jesus von Nazaret
kommen, sie haben eben weniger Hemmungen zu überwinden. Ich habe es als einen der stärksten Erziehungsfaktoren in unserer Familie empfunden, dass man uns so viele Hemmungen zu überwinden gegeben hat (in Bezug auf Sachlichkeit, Klarheit, Natürlichkeit, Takt, Einfachheit etc.), bevor wir zu eigenen ÃuÃerungen gelangen konnten. (â¦) Und manchmal dauert es lange, ehe man eine solche Hürde genommen hat, und man denkt wohl auch gelegentlich, man hätte auf sehr viel billigere, leichtere Weise zu Erfolgen kommen können, wenn man diese Hindernisse einfach umgangen hätte.«
Meistens sahen die Kinder ihren Vater nur bei Tisch, immer mittags um zwei, und dort ging es â nach heutigen MaÃstäben â etwas steif zu. Die Kinder durften nur etwas sagen, wenn sie gefragt wurden. Hielt der Vater im Haus nachmittags Sprechstunde für seine Patienten, wurde von den Kindern absolute Rücksichtnahme verlangt. Das Arbeitszimmer des Vaters war tabu und durfte nur in ganz seltenen Ausnahmefällen mit besonderer Erlaubnis der Mutter betreten werden.
In den meisten bürgerlichen und groÃbürgerlichen Haushalten war das damals so. Das Leben, das Verhalten wie die Ãberzeugungen waren in ihren Grundmustern genormt. Selbstverständlich war man national gesinnt, selbstverständlich akzeptierte man die Monarchie. Und dass alle führenden Köpfe der Nation aus dem Adel und dem GroÃbürgertum stammten, hielt man für so selbstverständlich wie ein Naturgesetz. Auch der junge Dietrich Bonhoeffer dachte so, hielt nichts von der Sozialdemokratie, den Arbeiterparteien und schon gar nichts von den Kommunisten. Diese Kräfte bedeuten für ihn damals Unordnung, Chaos, die Macht der StraÃe, Anarchie, Bolschewismus.
Er hatte bis dahin allerdings auch nie seine groÃbürgerlichen Kreise verlassen, hatte nie einen Anlass, in jene Armutsviertel zu gehen, in denen die Arbeiter, die Arbeitslosen und sein Dienstpersonal lebten. Später, als Pfarrer, wird er in diese Viertel gehen. Und seine Meinung ändern.
Dass er es tut und sich damit aus seiner Familie entfernt, wurzelt dennoch im Leben seiner Familie. Innerhalb der ganzen Uniformität des GroÃbürgertumsblieb noch ein groÃer Spielraum für beträchtliche Unterschiede zwischen den einzelnen Häusern, und diese Unterschiede brachten unterschiedliche Biografien hervor. So wissen sich die Bonhoeffer-Kinder bei aller Distanz zum Vater und dessen damals üblicher Strenge auf eine verborgene Weise dennoch von ihm geliebt, was damals noch weniger selbstverständlich war als heute. Sie bemerken die Liebe ihres Vaters nicht an seinen Worten, schon gar nicht an zärtlichen Gesten, Umarmungen, GefühlsäuÃerungen, sondern an den Nuancen menschlichen Verhaltens, der sparsamen, von angestrengter Selbstbeherrschung reduzierten Mimik, Gestik und Sprache ihres Vaters.
Als im Jahr 1918 Dietrichs Bruder Walter im Ersten Weltkrieg getötet wird, zeigt der Vater äuÃerlich kaum eine Regung. Wie tief sein Schmerz tatsächlich war, wird erst sehr viel später deutlich, als die Familie herausfand, dass er von jenem Tag an zehn Jahre lang das Familientagebuch nicht weiterschreiben konnte.
Mindestens so wichtig wie der Vater war die Mutter Paula. Mütter durften Gefühle zeigen und Paula strömte über von Gefühl, machte aber auch deutlich, dass Gefühl und Verstand zusammengehören. Und: Sie hielt nichts von der preuÃischen Erziehung, dem Drill, der Unterwerfung, der Erziehung zu Ruhe und Ordnung als erster Bürgerpflicht. Kritisch äuÃerte sie immer wieder, den Deutschen würde im Leben gleich zweimal das Rückgrat gebrochen, zuerst in der Schule, dann im Militär â eine durchaus zutreffende Beschreibung der Erziehung im Reich des Kaisers Wilhelm. Wohl auch eine der Ursachen dafür, dass später ein Hitler möglich werden konnte und so viele zum Gehorsam erzogene Offiziere und Beamte sich bis zuletzt so schwer getan hatten, gegen Hitler aufzustehen.
Im Haus Bonhoeffer dagegen atmete ein Geist der Freiheit und der kritischen Prüfung. Sowohl der Vater wie die Mutter haben diesen Geist gefördert und der Vater als Mann der Wissenschaft impfte seine Kinder mit nüchternem Realitätssinn und Misstrauen gegen groÃe Worte, groÃe Gefühle, Phrasen, Geschwätz, Schlagwörter, Gemeinplätze und Wortschwalle. So erzogene Kinder
Weitere Kostenlose Bücher