Jesus von Nazaret
aufwächst.
Natürlich spielen auch die Gene, körperliche Robustheit, Gesundheit und die geistig-seelischen Anlagen, mit denen einer geboren wird, eine Rolle. Aber auch das kommt von Mutter und Vater und deren Vorfahren. Im Verlauf der Entwicklung eines Kindes üben mit fortschreitender Zeit die Geschwister einen wachsenden Einfluss aus, dazu Verwandte, Lehrer, Pfarrer, und nicht zu vergessen die Lektüre und die religiös-weltanschaulichen Ãberzeugungen, mit denen ein Kind in Berührung kommt, was aber ebenfalls zum groÃen Teil ein Ergebnis des Familienlebens und eine Folge unvorhergesehener Ereignisse, Erlebnisse und Zufälle ist.
Was an dem Ort, an dem man aufwächst, gedacht wird, als Wahrheit gilt, für gut befunden wird und was nicht, das dringt unaufhaltsam in Leib, Seele und Geist eines heranwachsenden Menschen ein und gewinnt Macht über ihn. Wenn einer in eine Welt hineingeboren wird, in der er von lauter Mitläufern umgeben ist, wird er sehr wahrscheinlich ebenfalls ein Mitläufer. Denkt seine Welt antisemitisch, entwickelt er sich mit hoher Wahrscheinlichkeit zum Antisemiten.
Bevor also einer überhaupt erst damit beginnen kann, sich selbst zu formen, ist er schon vorgeformt worden von den Zusammenhängen und Strukturen, die nun einmal da sind, wenn man geboren wird, von einer Gesamtkonstellation, die sich aus dem Zusammenspiel von Familie, Politik, Wirtschaft, Technik, Religion, Geschichte, Landschaft, Schuldzusammenhängen und Verstrickungen seiner Zeit ergibt. So wird jeder zu einem Kind seiner Zeit und meistens gelingt es immer nur wenigen, sich von diesen zufälligen, aber prägendenKonstellationen zu emanzipieren und sich seine eigene Form zu geben. Es müssen viele günstige Umstände zusammenkommen, wenn einer es schafft, sich über die Zufälle seiner Existenz zu erheben, sich mit den Bedingtheiten seines Lebens auseinanderzusetzen, und sie in freier Entscheidung zu überwinden.
Man kann das gut zeigen am Beispiel des Pfarrers und Theologen Dietrich Bonhoeffer. Bei ihm ist es ein groÃbürgerlicher Professorenhaushalt in Breslau, in den er im Februar 1906 als sechstes von acht Geschwistern hineingeboren und in dem er geprägt wird. Die Familie bewohnt eines jener groÃen Bürgerhäuser, die man heute als »Herrenhaus« bezeichnen würde, und seine Bewohner fühlen sich auch so. Man weiÃ, wer man ist. Man hat Personal, Gesinde, das zu solch einem Haus gehört: die Köchin, das Stubenmädchen, der Chauffeur, die Erzieherin und weitere Dienstboten. Geldsorgen kennt die Familie nicht. Die Kinder haben genug Spielzeug, Bücher, Platz für Freunde, ein eigenes Zimmer, einen Garten und ein Ferienhaus im Harz.
Aber man versteht sich als Herr im guten Sinn. Im Hause Bonhoeffer beruft man sich nicht auf seine Herkunft, sondern auf seine Leistung. Man fühlt sich nicht geboren, um zu herrschen, sondern um zu dienen: Zwar mit Autorität und dem Anspruch auf Gehorsam, aber in Verantwortung für die, die einem anvertraut sind. Die Welt ist klar geordnet, die Rollen sind ebenso klar definiert und eindeutig zugewiesen. Wie in der Familie der Vater als Patriarch in der Mitte stand und alles dominierte, so stand in der Nation der Kaiser an der Spitze, und ihm war alles andere untergeordnet. Der Staat, die Nation, das Militär, das waren zu jener Zeit drei Faktoren, die sich selbstverständlicher und zugleich höchster Wertschätzung erfreuten im Bürgertum, im GroÃen und Ganzen auch im Hause Bonhoeffer.
Und so steht denn auch im Zentrum der Familie der Vater, Karl Bonhoeffer, Professor für Psychiatrie und Neurologie. Er ist nicht nur Vater, sondern eine Institution, zu der man als Kind Distanz hält und der man sich nur mit Respekt nähern kann. Er spricht leise und nicht viel. Umso gröÃer ist die Aufmerksamkeit, wenn er etwas sagt, und umso gewichtiger ist das wenige, das er sagt. Entsprechend verlangt er auch von seinen Kindern, sich knapp, klar und sachlich auszudrücken â womit er diese einerseits einschüchtert, ihnen manche Hemmung auferlegt, sie andererseits zwingt, vor dem Reden zu denken.
Ãber die dadurch erzeugten Hemmungen dachte Bonhoeffer später, als Erwachsener, nach und kam zu dem Schluss, dass sie für ihn am Ende ein Vorteil waren: »Manche verderben sich selbst dadurch, dass sie sich mit Mittlerem abfinden und so vielleicht schneller zu Leistungen
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