Jesus von Nazareth - Band II
Hahnenschrei steht plötzlich wieder vor ihm – und nun in seiner schrecklichen Wahrheit. Lukas fügt noch die Nachricht hinzu, dass in diesem Augenblick der gefesselte und verurteilte Jesus abgeführt wird, um vor das Gericht des Pilatus gebracht zu werden. Jesus und Petrus begegnen sich. Jesu Blick trifft die Augen und die Seele des untreuen Jüngers. Und Petrus „ging hinaus und weinte bitterlich“ (Lk 22,62).
JESUS VOR PILATUS
D as Verhör Jesu vor dem Hohen Rat hatte in einer Weise geschlossen, wie Kajaphas es erwartet hatte: Jesus wurde der Blasphemie für schuldig befunden, auf die die Todesstrafe stand. Da aber die Blutgerichtsbarkeit den Römern vorbehalten war, musste der Prozess zu Pilatus verlegt werden und damit die politische Seite des Schuldspruchs in den Vordergrund treten. Jesus hatte sich als Messias bekannt, also die Königswürde in Anspruch genommen, wenn auch auf ganz eigene Weise. Der Anspruch auf das messianische Königtum war ein politisches Vergehen, das von der römischen Justiz geahndet werden musste. Mit dem Hahnenschrei war der Tag angebrochen. Der römische Statthalter pflegte in den frühen Morgenstunden zu Gericht zu sitzen.
So wird Jesus nun von seinen Anklägern zum Prätorium geführt und dem Pilatus als todeswürdiger Missetäter vorgestellt. Es ist „Rüsttag“ zum Pascha-Fest: Die Lämmer werden am Nachmittag geschlachtet für das abendliche Mahl. Dafür ist kultische Reinheit erforderlich; so können die priesterlichen Ankläger das heidnische Prätorium nicht betreten und verhandeln mit dem Römer vor dem Gebäude. Johannes, der uns diese Notiz übermittelt (18,28f), lässt damit den Widerspruch zwischen korrekter Einhaltung der kultischen Reinheitsvorschriften und der Frage der inneren, eigentlichen Reinheit des Menschen durchscheinen: Dass nicht das Betreten des heidnischen Hauses verunreinigt, sondern die innere Gesinnung desHerzens, kommt den Anklägern nicht in den Sinn. Zugleich unterstreicht der Evangelist damit, dass das Pascha-Mahl noch nicht stattgefunden hat und dass die Schlachtung der Lämmer noch bevorsteht.
Bei der Schilderung des Prozessverlaufs stimmen die vier Evangelien in allem Wesentlichen überein. Johannes allein berichtet von dem Gespräch zwischen Jesus und Pilatus, in dem die Frage nach dem Königtum Jesu, nach dem Grund seines Sterbens in ihrer ganzen Tiefe ausgemessen wird (18,33 – 38). Die Frage nach dem historischen Wert dieser Überlieferung ist – selbstverständlich – bei den Auslegern umstritten. Während Charles H. Dodd und auch Raymond E. Brown sie positiv beurteilen, äußert sich Charles K. Barrett extrem kritisch: „Die Ergänzungen und Veränderungen, die Johannes vornimmt, flößen kein Vertrauen in seine historische Zuverlässigkeit ein“ (a. a. O., S. 511). Es wird gewiss niemand voraussetzen, dass Johannes so etwas wie ein Prozessprotokoll bieten will. Wohl aber darf man annehmen, dass er die Kernfrage, um die es ging, mit großer Genauigkeit auszulegen wusste und uns vor die eigentliche Wahrheit dieses Prozesses stellt. So sagt denn auch Barrett, „dass Johannes höchst scharfsinnig den Schlüssel der Passionsgeschichte im Königtum Jesu herausgefunden und dessen Sinn vielleicht deutlicher als irgendein anderer neutestamentlicher Autor herausgestellt hat“ (S. 512).
Aber fragen wir zunächst: Wer genau waren die Ankläger? Wer hat auf das Todesurteil Jesu gedrängt? In den Antworten der Evangelien gibt es Differenzen, die wir bedenken müssen. Nach Johannes sind es einfach „die Juden“. Aber dieser Ausdruck bezeichnet bei Johannes keineswegs– wie der moderne Leser vielleicht zu lesen geneigt ist – das Volk Israel als solches, noch weniger hat er „rassistischen“ Charakter. Schließlich war Johannes vom Volk her selbst Jude, genauso wie Jesus und all die Seinigen. Die ganze Urgemeinde bestand aus Juden. Bei Johannes hat dieses Wort eine präzis und streng umgrenzte Bedeutung: Er benennt damit die Tempel-Aristokratie. So ist der Kreis der Ankläger, die den Tod Jesu betreiben, im vierten Evangelium genau umschrieben und klar begrenzt: eben die Tempel-Aristokratie – auch sie freilich nicht ausnahmslos, wie der Hinweis auf Nikodemus (7,50ff) zeigt.
Bei Markus erscheint im Kontext der Pascha-Amnestie (Barabbas oder Jesus) der Kreis der Kläger ausgeweitet: Der „Ochlos“ tritt in Erscheinung und optiert für die Freigabe des Barabbas. „Ochlos“ bedeutet zunächst
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