Jesus von Nazareth - Band II
realistisch. Man sagt vielfach, die Evangelien hätten ihn von einer politisch motivierten romfreundlichen Tendenz her zunehmend positiv gestaltet und die Verantwortung für den Tod Jesu immer mehr den Juden angelastet. Aber für eine solche Tendenz gab es in der historischen Situation der Evangelisten keine Gründe: Als die Evangelien geschrieben wurden, hatte die neronische Verfolgung bereits die grausame Seite des römischen Staates und die ganze Willkür der kaiserlichen Macht gezeigt. Wenn wir die Apokalypse ungefähr gleichzeitig mit dem Johannes-Evangelium datieren dürfen, so wird sichtbar, dass das vierte Evangelium nicht in einem Kontext entstand, der zu einer romfreundlichen Darstellung Anlass gegeben hätte.
Das Pilatus-Bild der Evangelien zeigt uns ganz realistisch den römischen Präfekten als einen Mann, der brutal einzugreifen wusste, wenn ihm dies der öffentlichen Ordnung wegen angezeigt schien. Aber er wusste auch, dass Rom seine Weltherrschaft nicht zuletzt der Toleranz fremden Gottheiten gegenüber und der friedenstiftenden Kraft des römischen Rechts verdankte. So tritt er uns im Prozess Jesu gegenüber.
Die Anklage, Jesus erkläre sich zum König der Juden, wog schwer. Rom konnte zwar durchaus regionale Könige – wie Herodes – anerkennen, aber sie mussten von Rom legitimiert sein und von Rom die Umschreibung und die Umgrenzung ihrer Hoheitsrechte erhalten. Ein König ohne diese Legitimität war ein Aufrührer, der die Pax Romana bedrohte und damit des Todes schuldig war.
Aber Pilatus wusste, dass von Jesus keine Aufstandsbewegung ausgegangen war. Nach allem, was er gehört hatte, muss ihm Jesus als ein religiöser Schwärmer erschienen sein, der vielleicht jüdische Rechts- und Glaubensordnungen verletzte, aber das betraf ihn nicht. Darüber mussten die Juden selbst richten. Von den römischen Rechts- und Herrschaftsordnungen her, die seiner Kompetenz zugehörten, lag nichts Ernstliches gegen Jesus vor.
An dieser Stelle müssen wir uns von den Erwägungen über die Person des Pilatus dem Prozess selbst zuwenden. In Joh 18,34f wird klar gesagt, dass bei Pilatus von seinen eigenen Informationen her nichts gegen Jesus vorlag. Der römischen Behörde war nichts bekannt geworden, was irgendwie den Rechtsfrieden bedroht hätte. Die Anklage kam von Jesu eigenen Landsleuten, von der Tempelbehörde. Es musste Pilatus verwundern, dass Jesu Landsleute ihm als Verteidiger Roms gegenübertraten, wo seine eigenen Kenntnisse einen Eingriff nicht als erforderlich erscheinen ließen.
Aber im Verhör gibt es unvermittelt doch einen erregenden Augenblick: das Bekenntnis Jesu. Auf die Frage des Pilatus „Also bist du ein König?“ antwortet er: „Du sagst es, ich bin ein König. Ich bin dazu geboren und dazu in die Welt gekommen, dass ich für die Wahrheit Zeugnis ablege. Jeder, der aus der Wahrheit ist, hört auf meine Stimme“ (Joh 18,37). Vorher schon hatte Jesus gesagt: „Mein Königtum (Reich) ist nicht von dieser Welt. Wenn es von dieser Welt wäre, würden meine Leute kämpfen, damit ich nicht den Juden ausgeliefert würde. Aber mein Königtum ist nicht von hier“ (18,36).
Dieses „Geständnis“ Jesu stellt Pilatus vor eine merkwürdigeSituation: Der Angeklagte beansprucht Königtum und Königreich
(basileía)
. Aber er betont die totale Andersheit seines Königtums, und zwar mit dem konkreten Punkt, der für den römischen Richter entscheidend sein muss: Niemand kämpft für dieses Königtum. Wenn Macht, und zwar militärische Macht charakteristisch ist für Königtum und Reich, so ist nichts davon bei Jesus vorhanden. Insofern gibt es auch keine Bedrohung der römischen Ordnungen. Dieses Reich ist gewaltlos. Es verfügt über keine Divisionen.
Mit diesen Worten hat Jesus einen durchaus neuen Begriff von Königtum und Reich geschaffen und Pilatus, den Vertreter der klassischen weltlichen Macht, damit konfrontiert. Was soll Pilatus und was sollen wir von diesem Begriff eines Reichs und eines Königtums halten? Ist es unwirklich, eine Schwärmerei, die man übergehen kann? Oder geht es uns irgendwie an?
Jesus hat neben der klaren Abgrenzung des Reich-Begriffs (niemand kämpft, irdische Machtlosigkeit) einen positiven Begriff eingeführt, um das Wesen und die eigene Art der Macht dieses Königtums zugänglich zu machen: die Wahrheit. Pilatus hat im weiteren Verlauf des Verhörs einen anderen Begriff ins Spiel gebracht, der seiner Welt entstammt und normalerweise mit „Reich“
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