Jesus von Nazareth: Prolog - Die Kindheitsgeschichten (German Edition)
feststellen, dass Maria „ein Kind trug aus Heiligem Geist“ (Mt 1,18).
Was Matthäus hier über die Herkunft des Kindes vorwegnimmt, weiß Josef aber noch nicht. Er muss annehmen, dass Maria das Verlöbnis gebrochen hat, und muss sie – dem Gesetz gemäß – verlassen; dabei kann er sich zwischen einem öffentlichen Rechtsakt und einer privaten Form entscheiden. Er kann Maria vor Gericht bringen oder ihr einen privaten Scheidebrief ausstellen. Josef entschließt sich für den zweiten Weg, um Maria „nicht bloßzustellen“ (v. 19). Matthäus sieht in diesem Entscheid ein Zeichen dafür, dass Josef „ein Gerechter“ war.
Die Bezeichnung Josefs als eines Gerechten (Zaddik) reicht weit über die Entscheidung dieses Augenblicks hinaus:Sie gibt ein Gesamtbild des heiligen Josef und reiht ihn zugleich in die großen Gestalten des Alten Bundes ein – angefangen bei Abraham, dem Gerechten. Wenn man sagen kann, dass die im Neuen Testament vorliegende Form von Frömmigkeit sich in dem Wort „ein Glaubender“ zusammenfasst, so ist das Ganze eines Lebens gemäß der Heiligen Schrift im Alten Testament in dem Begriff „ein Gerechter“ zusammengefasst.
Psalm 1 bietet das klassische Bild des „Gerechten“. Wir dürfen ihn so geradezu als ein Porträt der geistlichen Gestalt des heiligen Josef ansehen. Gerecht ist demnach ein Mensch, der in der lebendigen Berührung mit dem Wort Gottes lebt, der „Freude hat an der Weisung des Herrn“ (v. 2). Er gleicht einem Baum, gepflanzt an Wasserläufen, der stetig seine Frucht bringt. Mit den Wasserläufen, aus denen er sich nährt, ist natürlich das lebendige Wort Gottes gemeint, in das er die Wurzeln seines Seins hinabsenkt. Gottes Wille ist ihm nicht von außen auferlegtes Gesetz, sondern „Freude“. Das Gesetz wird ihm von selbst zum Evangelium, zur frohen Botschaft, weil er es in der persönlichen, liebenden Hinwendung zu Gott liest und es so von innen her zu verstehen und zu leben lernt.
Wenn Psalm 1 als Kennzeichen des Gerechten, des „glücklichen Mannes“, sein Wohnen in der Tora, im Wort Gottes ansieht, so nennt der Paralleltext Jer 17,7 „gesegnet“ den, der „auf den Herrn sich verlässt und dessen Hoffnung der Herr ist“. Hier tritt stärker als im Psalm der persönliche Charakter der Gerechtigkeit hervor – das Sich-Verlassen auf Gott, das dem Menschen Hoffnung gibt. Obwohl beide Texte nicht unmittelbar vom Gerechten, sondern vom glücklichen oder vom gesegneten Mann sprechen, dürfen wir sie mit Hans-Joachim Kraus doch als das authentischeBild des alttestamentlichen Gerechten ansehen und so von daher auch lernen, was Matthäus uns sagen will, wenn er den heiligen Josef als „Gerechten“ vorstellt.
Dieses Bild des Menschen, der seine Wurzeln in den lebendigen Wassern von Gottes Wort hat, im Dialog mit Gott lebt und daher stetig Frucht bringt – dieses Bild wird in dem beschriebenen Ereignis konkret wie auch in allem, was hernach über Josef von Nazareth erzählt wird. Nach der Entdeckung, die Josef gemacht hat, geht es darum, das Gesetz recht auszulegen und anzuwenden. Er tut es in Liebe: Er will Maria nicht öffentlich der Schande preisgeben. Er will ihr gut, auch in der Stunde der großen Enttäuschung. Er verkörpert nicht jene Form von veräußerlichter Gesetzlichkeit, die Jesus in Mt 23 brandmarkt und gegen die Paulus kämpft. Er lebt das Gesetz als Evangelium. Er sucht den Weg der Einheit von Recht und Liebe. Und so ist er innerlich vorbereitet auf die neue, unerwartete und menschlich unglaubliche Kunde, die ihm von Gott kommen wird.
Während der Engel zu Maria „hereintritt“ (Lk 1,28), erscheint er Josef nur im Traum – freilich in einem Traum, der Wirklichkeit ist und Wirklichkeit offenbart. Noch einmal zeigt sich uns ein wesentlicher Zug der Gestalt des heiligen Josef: Seine Wahrnehmungsfähigkeit dem Göttlichen gegenüber und seine Fähigkeit der Unterscheidung. Nur einem Menschen mit einer inneren Wachheit dem Göttlichen gegenüber, mit einer Sensibilität für Gott und seine Wege, kann die Botschaft Gottes so begegnen. Und Unterscheidungsfähigkeit ist notwendig, um zu erkennen, ob es nur Traum gewesen oder ob wirklich Gottes Bote bei ihm eingekehrt war und zu ihm gesprochen hatte.
Die Botschaft, die ihm zuteilwird, ist gewaltig, und sie erfordert einen außerordentlichen Mut des Glaubens. Kann es sein, dass Gott wirklich gesprochen hat? Dass Josef im Traum Wahrheit empfangen hat – eine Wahrheit, die alles Erwartbare
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