Jesus von Nazareth: Prolog - Die Kindheitsgeschichten (German Edition)
wirklichen Geschichte von der Geburt und Rettung des Mose eine neue Wendung gibt.
Das Buch Exodus berichtet, dass der Pharao angesichts der zunehmenden Zahl und Bedeutung der jüdischen Bevölkerung eine Bedrohung für sein Land Ägypten fürchtet und deshalb die jüdische Minderheit nicht nur durch Zwangsarbeit terrorisiert, sondern auch die Weisung gibt, die neugeborenen männlichen Kinder zu töten. Mose wird durch eine List der Mutter gerettet und wächst am Königshof in Ägypten als Adoptivsohn der Tochter des Pharaos heran; er muss freilich später aufgrund seines Eintretens für die gequälte jüdische Bevölkerung fliehen (vgl. Ex 2).
Die Mose-Haggada erzählt die Geschichte anders: Schriftkundige hatten dem König geweissagt, es werde umjene Zeit aus hebräischem Blut ein Knabe geboren werden, der – einmal herangewachsen – die Herrschaft der Ägypter vernichten, die Israeliten hingegen mächtig machen werde. Darauf habe der König befohlen, alle hebräischen Knaben gleich nach der Geburt in den Fluss zu werfen und zu töten. Dem Vater des Mose sei aber Gott im Traum erschienen und habe versprochen, das Kind zu retten (vgl. Gnilka, a. a. O., S. 34 f). Anders als es das Buch Exodus begründet, sollen hier die jüdischen Knaben getötet werden, um auch den Verheißenen – Mose – sicher zu beseitigen.
Dieser Zweck und auch die Traumerscheinung des Vaters, die Rettung verheißt, rücken die Erzählung in die Nähe der Geschichte von Jesus, Herodes und den getöteten unschuldigen Kindern. Aber diese Ähnlichkeiten reichen nicht aus, um den Bericht des heiligen Matthäus als eine bloße christliche Variation der Mose-Haggada erscheinen zu lassen. Dafür sind die Unterschiede zwischen den beiden Erzählungen zu groß. Im Übrigen sind die Antiquitates des Flavius Josephus zeitlich ziemlich sicher nach dem Matthäus-Evangelium anzusetzen, auch wenn die Geschichte als solche eine ältere Überlieferung bezeugen wird.
In einer ganz anderen Zielrichtung hat freilich auch Matthäus die Mose-Geschichte aufgenommen, um von ihr her die Deutung des ganzen Geschehens zu finden. Er sieht den Schlüssel zum Verstehen in dem Prophetenwort: „Aus Ägypten habe ich meinen Sohn gerufen“ (Hos 11,1). Hosea erzählt die Geschichte Israels als eine Liebesgeschichte Gottes mit seinem Volk. Die Zuwendung Gottes zu Israel wird hier allerdings nicht im Bild der bräutlichen Liebe, sondern in dem der Liebe der Eltern dargestellt: „Darum
erhält Israel auch den Titel ‚Sohn‘ … im Sinne einer Adoptivsohnschaft. Die Grundtat der Vaterliebe ist die Befreiung des Sohnes aus Ägypten“ (Deissler, a. a. O., S. 50). Für Matthäus spricht der Prophet hier von Christus: Er ist der wahre Sohn. Ihn liebt der Vater, und ihn ruft er aus Ägypten.
Für den Evangelisten beginnt die Geschichte Israels noch einmal und neu mit der Heimkehr Jesu aus Ägypten ins Heilige Land. Die erste Heimholung aus dem Land der Knechtschaft war freilich in vieler Hinsicht gescheitert. Bei Hosea ist die Antwort auf den Ruf des Vaters das Weglaufen der Gerufenen: „Je mehr ich sie rief, desto mehr liefen sie von mir weg“ (11,2). Dieses Weglaufen vor dem Ruf der Befreiung führt zu einer neuen Knechtschaft: „Doch er muss wieder zurück nach Ägypten, Assur wird sein König sein; denn sie haben sich geweigert umzukehren“ (11,5). So ist Israel gleichsam immer noch und immer wieder in Ägypten.
Mit der Flucht nach Ägypten und mit seiner Heimkehr ins Gelobte Land schenkt Jesus den endgültigen Exodus. Er ist wirklich der Sohn. Er wird nicht davonlaufen vor dem Vater. Er kommt nach Hause und führt nach Hause. Immer ist er auf dem Weg zu Gott und führt damit aus der Entfremdung in die Heimat, ins Eigentliche und Eigene. Jesus, der wahre Sohn, ist in sehr tiefem Sinn selbst in die „Fremde“ gegangen, um uns alle aus der Entfremdung heimzuführen.
Den kurzen Bericht über den Kindermord zu Bethlehem, der auf die Flucht nach Ägypten folgt, schließt Matthäus wiederum mit einem Prophetenwort ab, das er diesmal dem Buch Jeremia entnimmt: „Ein Geschrei war in Ramazu hören, lautes Weinen und Klagen: Rachel weinte um ihre Kinder und wollte sich nicht trösten lassen, denn sie waren dahin“ (Jer 31,15; Mt 2,18). Bei Jeremia stehen diese Worte im Rahmen einer von Hoffnung und Freude bestimmten Weissagung, in der der Prophet mit Worten voller Zuversicht die Wiederherstellung Israels ankündigt: „Er, der Israel zerstreut hat, wird
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