Jesus Von Nazareth - Und Die Anfaenge Des Christentums - Ein SPIEGEL-Buch
Feiertagen bis zu 300000 Gläubige Platz. Der Haupteingang lag wahrscheinlich im Süden. Zu ihm führte eine breite Treppe, deren Überreste noch heute sichtbar sind. Schwartz stellt sich die Stufen als »Hyde Park Corner« Judäas vor. Der Trubel der Menge hier war die ideale Bühne für Volkstribune und Propheten: »Lehrer saßen mit ihren Schülern auf den Stufen, Möchtegern-Propheten verkündeten hier ihre Botschaft«, sagt Schwartz.
Dass Jerusalem eine kosmopolitische Stadt war, konnte man hören: Viele verschiedene Sprachen wurden gesprochen. Lehrer zitierten die Heilige Schrift auf Hebräisch, neben ihnen tuschelten die Bewohner Jerusalems auf Aramäisch. Hellenisierte Juden und Konvertiten sprachen Griechisch oder Latein, Pilger aus dem Persischen Reich ihre Landessprachen. Ganze Dörfer aus der Diaspora kletterten, von flötenspielenden Leviten begleitet, den Aufgang hinauf, Frohsinn war von den Priestern verordnet.
Am Eingang des großen Tores inspizierten Leviten die Pilger. Wie an allen Zugängen achteten sie darauf, dass man sich gereinigt hatte und dass keine Unreinen den Tempel betraten. Vom Doppeltor gelangte man, an der Südecke des Tempelvorhofs, in die wohl größte Säulenhalle im Römischen Reich. Hier kontrastierten »Säulen aus dem weißesten Marmor und Getäfel aus Zedernholz« mit der bunten Pracht »aus Marmorsteinen in den unterschiedlichen Farben Blau, Rot und Grün«, die »wie die Wellen des Meeres wirkten«. Im Vorhof, der auch Nichtjuden offenstand, »ging es wahrscheinlich ziemlich fröhlich zu«, sagt Schwartz. Es war ein reges Treiben: Geldwechsler warben um Kundschaft, Opfertiere blökten ängstlich. Die meisten Pilger gingen wohl erst einmal um das hohe, vergoldete Gebäude des Allerheiligsten herum und verbeugten sich vor den 13 Eingängen an der über einen Meter hohen Brüstung, die den Hof der Israeliten einzäunte. Schilder warnten Unbefugte auf Griechisch: »Kein Fremder darf den Bereich innerhalb der Balustrade um das Heiligtum betreten. Wer dabei erwischt wird, ist für den Tod, der darauf folgt, selbst verantwortlich.«
Durch die Öffnungen in der Balustrade gelangte man zu den 14 Stufen vor der Tempelplattform. Die Armen brachten Turtel- und Feldtauben, Wohlhabende zerrten ein Rind, Schaf oder eine Hausziege hinter sich her. Opfer dienten oft der Buße, und die Opfergaben waren genau geregelt.
Ein Priester, der sündigte, musste einen Ochsen darbringen, ein Normalsterblicher konnte sich bei derselben Sünde mit einer Hausziege begnügen. Für Besitzlose reichte manchmal eine Schale Grieß mit Öl, Weihrauch und Wein. Eine Frau, die ihren Mann betrogen hatte, durfte kein Öl auf ihr Weizenopfer gießen, so blieb es offensichtlich minderwertig. Wer den Sabbat verletzt oder Inzucht begangen hatte, brachte ein Sündopfer dar. Wer betrogen oder mit der Frau eines hebräischen Sklaven geschlafen hatte, konnte sich mit einem Schuldopfer begnügen. Es gab auch Opfer, die rein aus Dankbarkeit erbracht wurden: Der erste Wurf eines Tieres wurde den Priestern geweiht. Zweimal täglich wurde ganz offiziell ein Rind im Namen und auf Kosten Cäsars und des römischen Volkes geopfert – das abergläubische Imperium wollte sich nicht mit dem Judengott anlegen. Darüber hinaus brachten Priester das Daueropfer dar, für das die Leviten mit Gesang und Trompeten die Menge in Stimmung brachten und ihr bedeuteten, wann sie sich zu verbeugen hatte. Um zum Innenhof zu gelangen, schritt die Menge durch eines der neun vergoldeten und versilberten Tore. Besonders beeindruckend war »das Außentor des eigentlichen Tempels, das sogar aus korinthischem Erz war und die versilberten und vergoldeten ganz bedeutend an Wert übertraf«, so Josephus. Hier bot sich der Blick auf den Opferkult, der nur im Tempel von Jerusalem begangen werden durfte.
Das Heiligtum war nicht nur Zentrum des jüdischen Kults, sondern auch Kristallisationspunkt patriotisch-religiöser Emotionen. Rom wusste, dass die Kontrolle über dieses Gebäude der Herrschaft über Judäa gleichkam, und machte deshalb mit simplen Gesten klar, wer das Sagen hatte. Das Gewand des Hohepriesters, »ein bis an die Knöchel reichendes, hyazinthblaues, den ganzen Körper umwallendes Oberkleid, das mit Fransen bedeckt war«, von denen »goldene Glöckchen und Granatäpfel« hingen, bewahrten sie in der nahen Festung Antonia auf. Vor den Festtagen wurde der Hohepriester vom spirituellen Oberhaupt zum Bittsteller degradiert, der bei den
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