Jesus Von Nazareth - Und Die Anfaenge Des Christentums - Ein SPIEGEL-Buch
Boden liegen Skelette von Menschen, denen er vielleicht die Hand geschüttelt hat. Teller, von denen er aß. Boote, auf denen seine Jünger auf den See Genezareth hinausfuhren, um Fische zu fangen. Häuser, an denen sein Vater als Zimmermann mitbaute. Doch die Suche nach Zeugnissen für das Neue Testament birgt auch die Gefahr von Missverständnissen. Denn wer mit der Bibel in der einen und dem Spaten in der anderen Hand loszieht, wird nur das finden, was er sucht. Er wird kein vollständiges Bild Galiläas um die Zeitenwende erhalten, sondern nur einen kleinen, wahrscheinlich verzerrten Ausschnitt.
Galiläa zur Zeit Jesu war ein spannendes Terrain. Eine strategisch wichtige Durchgangsstation, an der sich Handelsrouten von Nord nach Süd und von West nach Ost kreuzten. Eine Region, in der die aufstrebende Macht Rom nach der Herrschaft griff. Ein Ort, an dem alter Glaube und Tradition mit neuen Ideen, Werten und Machtformen konkurrierten – mit allem Aufruhr, der zu einem solchen Prozess gehört. Und trotz aller Umwälzungen eben auch ein Landstrich, dessen Bauern wie jeden Tag seit Jahrhunderten auf die Felder gingen und die Fischer auf den See fuhren. »Unsere Frage lautet also nicht: Wie lebte Jesus? Sondern vielmehr: Wie lebte man damals in Galiläa?«, erklärt der Archäologe Jürgen Zangenberg von der Universität Leiden.
Jesus wählte Kapernaum am Nordufer des Sees Genezareth als Wohn- und Wirkstätte. Heute gehören große Teile des Geländes dem Orden der Franziskaner, die dort seit Beginn des 20. Jahrhunderts archäologische Ausgrabungen durchführen. Auf den Nachbargrundstücken gräbt die griechisch-orthodoxe Kirche. Dabei kommt ein Kapernaum um die Zeitenwende zutage, das mit 600 bis 1000 Einwohnern die Bezeichnung »größeres Dorf« verdiente. Der Alltag der Einwohner muss in sehr beschaulichen Bahnen verlaufen sein, das lassen die Häuser vermuten, die von den Franziskanern ausgegraben wurden. Geräumige Gebäude aus grob behauenen Feldsteinen. Ställe, Wohn- und Lagerräume gruppierten sich um kleine Höfe, von rechtwinkligen Gassen in regelmäßige Straßenblöcke zerteilt. So lebten Großfamilien mehrerer Generationen mit ihren Bediensteten plus Tieren unter einem Dach. Offensichtlich musste niemand dem Nachbarn etwas neiden – der Zuschnitt der Wohnhäuser zeigt, dass sich die Besitztümer kaum voneinander unterschieden. Weder gab es in diesem Wohnviertel größere Häuser, die auf besonderen Reichtum hindeuten würden, noch fanden die Ausgräber ungewöhnlich kleine Hütten. Offenbar stand jedem der gleiche Platz und damit auch ein ähnliches soziales Ansehen zu.
Viel zu tun gab es nicht, die Einwohner verbrachten ihre Tage mit Ackerbau und Fischfang. Doch sie waren bei weitem keine Hinterwäldler. Immerhin zogen regelmäßig Karawanen auf dem Weg von oder nach Jerusalem, Tiberias, Sepphoris, Ptolemais oder Damaskus am Dorf vorbei. Im Gepäck hatten sie neben Neuigkeiten auch hübsche Dinge aus Glas oder feiner Keramik, alles stets nach der neuesten Mode. Nach dem Tod des Herodes im Jahr 4 vor Christus war das Land östlich des Sees an seinen Sohn Philippus gefallen, das westliche an seinen Sohn Antipas. Kapernaum wurde Grenzstadt zwischen den beiden Reichen – und damit zur Zollstation, zum erzwungenen Stopp für alle Reisenden. Warum sich Jesus ausgerechnet diesen Ort als Wirkstätte auswählte, ist nicht bekannt. Zumindest kamen seine ersten Jünger aus dieser beschaulichen Welt, von hier aus fuhren sie täglich auf den See hinaus – auf Booten wie jenem, das 1986 bei sehr niedrigem Wasserstand am Ufer des Kibbuz Ginnosar auftauchte.
Spaziergänger entdeckten zuerst ein paar rostige Nägel im Schlamm. Sie gehörten zu einem acht Meter langen Boot, auf dem tatsächlich zu Lebzeiten Jesu Fischer ihren Lebensunterhalt erarbeitet hatten. Zwar bestand der Rahmen aus Eiche, die Verschalung aus Libanonzeder – doch für die vielen Flicken und Reparaturen hatten die Fischer nehmen müssen, was sie an Hölzern gerade bekommen konnten. Sie hämmerten Aleppokiefer, Johannisbrotbaum, Christusdorn, Weißdorn, Judasbaum, Lorbeer, Platane, Feige, Weide oder Pistazie vor die Lecks, um das Boot seetüchtig zu halten. Das schwimmende Flickwerk diente den Fischern offensichtlich als zweites Zuhause. Zwischen den Planken entdeckten die Archäologen nicht nur ein Öllämpchen, sondern auch einen Kochtopf aus Keramik, wie er in frührömischer Zeit überall in der Gegend verwendet wurde.
Ein solches Boot
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