Jesus Von Nazareth - Und Die Anfaenge Des Christentums - Ein SPIEGEL-Buch
Beleg für die antike Kreuzigungspraxis ist die an ein Bruchstück aus Olivenholz genagelte Ferse eines jungen Mannes, die 1968 bei Ausgrabungen in Jerusalem gefunden wurde. Aus der anatomischen Rekonstruktion lässt sich schließen, dass die Füße seitlich an den Pfosten genagelt waren. Außerdem gilt es als wahrscheinlich, dass die Arme über dem Querbalken hingen. Mehr ist nicht bekannt. Aufgrund der mauen Informationslage schossen allerlei Spekulationen ins Kraut. Die wohl kühnste These: Jesus überlebte selbst diese grausige Prozedur. Anhänger dieser gewagten Theorie mutmaßten, die Auferstehung sei eine Art Bluff gewesen. Statt der Auffahrt in den Himmel habe sich der Heiler und Aufrührer seinen Häschern womöglich durch Flucht ins Ausland entzogen.
Besonders merkwürdig erscheint den Skeptikern, dass Jesus an seinem Marterpfahl bereits verhältnismäßig rasch verschieden sein soll. Den Angaben der Evangelisten zufolge endete sein Todeskampf bereits nach maximal sechs Stunden; in der Regel ging dem Exitus am Kreuz jedoch ein tagelanges Dahinsiechen unter unsagbaren Qualen voraus. Erfunden hatten diese Todesart wohl mehr als tausend Jahre zuvor die Phönizier. Den Römern galt sie als so demütigend, dass sie als finale Schmach für Sklaven und Aufständische vorgesehen war. Die römischen Folterknechte verstanden sich bestens darauf, die Leiden der Verurteilten zu verlängern. Gepeinigt von Schmerzen, Hitze und Durst sehnten die Opfer ihren Tod regelrecht herbei.
Der Körper Jesu verschwand indes nach überschaubarer Leidenszeit zügig in einer Grabstätte, die der wohlhabende Jude Josef von Arimathäa bereitgestellt hatte. War Christus am Kreuz mit dem getränkten Schwamm statt Essig eine Art Morphinpunsch verabreicht worden, nach dessen Genuss der Gepeinigte in einen rettenden Rausch fiel? Merkwürdig auch, dass der Pharisäer Nikodemus laut Johannesevangelium große Mengen Aloe und Myrrhe in die Gruft brachte – Gewächse, die den Menschen der Antike als Mittel zur Wundbehandlung und Desinfektion bekannt waren. Angesichts der Torturen, die Jesus bereits vor der Kreuzigung über sich ergehen lassen musste, drängt sich freilich eine andere Sicht auf. »Ich finde es außergewöhnlich, dass Jesus überhaupt noch in der Lage war, den Opfergang zum Kalvarienberg anzutreten«, sagt Frederick Zugibe.
Neben seiner früheren Arbeit als Chefpathologe eines Bezirks im US -Bundesstaat New York rätselte Zugibe über Jahrzehnte, welche Todesursache am Kreuz aus medizinischer Sicht am plausibelsten erscheint. Lange galt der Erstickungstod als wahrscheinliche Variante. Zugibe konnte jedoch mit aberwitzig anmutenden Versuchsanordnungen im Labor belegen, dass die Atmung eines Menschen auch dann nicht auf nennenswerte Weise beeinträchtigt wird, wenn er mit ausgestreckten Armen an einem Balken hängt. Diverse Freiwillige schnallte der Mediziner an ein Versuchskreuz. Schon nach wenigen Minuten klagten einige über Muskelprobleme. Keinem jedoch blieb die Luft weg. Auch eine weitere Hypothese schließt Zugibe aus: »Es ist sehr unwahrscheinlich, dass Jesus an einem Herzinfarkt gestorben ist. Er war erst in den Dreißigern, und eine koronare Herzerkrankung in diesen jungen Jahren wäre doch recht ungewöhnlich«, befindet der Arzt.
Vielmehr sei ihm gleich ein ganzes Bündel von Ursachen zum Verhängnis geworden. Offenkundig sah Jesus seinem Schicksal durchaus nicht mit Gelassenheit entgegen. Während des letzten Treffens mit seinen Jüngern schwitzte er Blut – unter Medizinern ein deutliches Symptom für starken Stress oder gar Todesangst. Von religiösen Eiferern verdroschen und verspottet zu werden, wie es Jesus im Hause des Hohepriesters Kaiphas widerfuhr, hätte auch rauere Gesellen arg beunruhigt. Doch aus dieser Prüfung ging Jesus noch vergleichsweise unbeschadet hervor.
Weit dramatischer war die anschließende Folterung mit dem Flagrum, einer Art Peitsche mit mehreren Lederriemen, in deren Enden scharfe Knochensplitter oder Bleikegel eingeflochten waren. »Das ist, als würde einem ein Baseball mit voller Wucht gegen die Rippen geschmettert – es verursacht einen sehr heftigen Schmerz, der Wochen anhalten kann«, sagt Zugibe. Vielleicht wurde Jesus mit der nach jüdischem Recht höchstzulässigen Anzahl von 40 Hieben bestraft. »Es gibt wenig Zweifel, dass die brutale Auspeitschung ein wesentlicher Grund für sein frühes Ableben war«, sagt Zugibe. Insbesondere Brustkorb und Lungen hatten wohl schweren
Weitere Kostenlose Bücher