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Jesus von Texas

Jesus von Texas

Titel: Jesus von Texas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: DBC Pierre
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gepackt, vielleicht mit einem Scherz auf den Lippen, die heute abend durchweicht von kalten Tränen sein werden. Bevor ich mich abwenden kann, bin ich davon umgeben. Ich falle flach auf den Boden neben der Turnhalle und sehe hinter den Sträuchern junges Leben durch die glatte, schmierige Luft spritzen. Wenn heftige Zeiten anbrechen, besprüht das Bewußtsein die Sinne mit Eis. Nicht um das Denken abzustellen, sondern um die Gehirnteile zu betäuben, die darauf trainiert sind, Erwartungen zu formulieren. Das wird mir klar, als die Schüsse fallen. Sie klingen so alltäglich wie das Klappern eines Einkaufswagens.
    In Schatten der Turnhalle finde ich einen Stoffetzen. Es sind die Shorts, die Jesus immer hinten in seinem Spind aufbewahrt. Jemand hat ein Loch ins Gesäß geschnitten und die Ränder mit braunem Edding nachgezogen. Darüber steht »Knusper, knusper«. Ein paar Meter weiter liegt sein Turnbeutel. Ich nehme ihn in die Hand und sehe, daß er leer ist, bis auf eine halbe Schachtel Munition. Und so bleibe ich stehen, den Blick auf den Boden geheftet, ohne auf den Rasen zu schauen, auf die sechzehn Einheiten menschlichen Fleisches, die dort ihre Seelen schon ausgehaucht haben. Leeres Fleisch surrt wie ein Bienenstock.
    »Er hat auf mich angelegt, aber Lori erwischt...« Nuckles robbt auf seinem Bauch um die Ecke und schnappt nach Luft, als wäre sie aus Ziegelsteinen. »Er hat gesagt, keiner soll ihm folgen - eine zweite Waffe, bei Keeter's ...«
    Einer seiner Finger hat Jesus hintergangen. Er hat Lon Donner erschossen, den einzigen Menschen außer mir, mit dem er befreundet war. Ich blicke auf und sehe, wie er sich am Haupteingang der Schule über ihren zusammengesackten Körper beugt - kreischend, häßlich und allein. Sein wahres Gesicht werde ich nie wieder sehen. Er weiß, was er zu tun hat. Ich wende mich ab, als die Zunge meines einstmals tollpatschigen Freundes den Gewehrlauf berührt. Mein Arm langt nach Nuckles, doch er weicht zurück. Ich weiß nicht, warum, und starre ihn an. Seine Mundwinkel zeigen nach unten wie bei einer Tragödienmaske; aus ihnen rinnt Speichel. Dann geht ein Schaudern durch meinen Körper. Ich folge seinem Blick auf den Turnbeutel mit dem Rest der Munition, den ich noch immer fest in meiner Hand halte.
zweiundzwanzig
    Weiß und käsig sieht Nuckles aus, als er im Gerichtssaal nach vorne kommt; seine Haare sind zu Büscheln verfilzt. Ihr müßtet ihn sehen - ihr würdet schwören, daß er mehr als nur einen Nervenzusammenbruch hatte. Unter der Tonne Makeup, die sie ihm verpaßt haben, ist er knochendürr und zerbrechlich.
    »Marion Nuckles«, sagt der Staatsanwalt. »Können Sie Vernon Gregory Little in diesem Gerichtssaal identifizieren?«
    Der Blick von Nuckles' versunkenen Augen mäandert durch den Raum und bleibt an meinem Käfig hängen. Dann, wie ein Wanderer, der sich gegen einen Orkan stemmt, hebt er seine Hand und richtet einen Finger auf mich.
    »Vermerken Sie bitte im Protokoll, daß der Zeuge den Angeklagten identifiziert hat. Mister Nuckles, können Sie bestätigen, daß Sie zwischen zehn und elf Uhr vormittags am 20. Mai dieses Jahres der verantwortliche Lehrer der Klasse des Angeklagten waren?«
    Nuckles' Augen schwimmen in ihren Höhlen, ohne irgendwas zu registrieren. Er bricht in Schweiß aus und klappt über der Brüstung des Zeugenstandes zusammen.
    »Euer Ehren, ich muß Protest einlegen«, sagt Brian, »der Zeuge ist in keinerlei Zustand ...«
    »Pschht!« sagt der Richter. Er beobachtet Nuckles durch die Schlitze seiner Augen.
    »Ich war dort«, sagt Nuckles. Seine Lippen zittern, und er beginnt zu weinen.
    Der Richter fuchtelt mit dringlicher Gebärde zum Staatsanwalt. »Kommen Sie zum Punkt«, zischt er.
    »Marion Nuckles, können Sie bestätigen, daß Sie den Angeklagten zu einem Zeitpunkt während dieser Stunde mit von Ihnen geschriebenen Notizen aus der Klasse schickten, um eine Erledigung zu machen?«
    »Ja, ja«, sagt Nuckles, heftig bebend.
    »Und was passierte dann?«
    Nuckles hängt über der Brüstung und würgt. »Die Liebe von Jesus verschmäht - seinen Duft im ganzen Lande getilgt ...«
    »Euer Ehren, bitte«, schreit Brian.
    »Und alle Erde mit dem Blut der Babys getränkt ...«
    Der Staatsanwalt schwebt mit offenem Mund in einer Zeitblase. »Was ist passiert?« schreit er. »Was genau hat Vernon Little getan?«
    »Er hat sie getötet, er hat sie alle getötet ...«
    Nuckles bricht in Schluchzen aus und stößt seine Klagelaute hervor wie ein

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