Jesus von Texas
Wolf, und von meinem Käfig in der neuen Welt heule ich zurück, schleudere Schluchzer zwischen den Gitterstäben hindurch wie Knochen. Mein Schluchzen klingt durch beide Plädoyers, hallt durch den Gang zu den Zellen hinter dem Gerichtsgebäude und überdauert den Besuch eines Gerichtsbeamten, der mir mitteilt, daß sich die Jury in ein Hotel zurückgezogen hat, um die Sache meines Lebens oder Sterbens zu erörtern.
Freitag, der 21. November, ist ein rauchiger Tag, durch den eine Ahnung vibriert, daß man von festen Stoffen durchströmt werden kann wie von Luft. Ich betrachte den Obmann der Jury dabei, wie er seine Brille aufsetzt und ein Blatt Papier vor sein Gesicht hebt. Mom konnte heute nicht kommen, aber Pam ist zusammen mit Vaine Gurie und Georgette Porkorney da. Vaine runzelt die Stirn und sieht etwas schlanker aus. Georges Porzellanaugen rollen umher und senden wahllos Blicke in den Saal; sie lenkt sich mit anderen Gedanken ab und zittert ein bißchen - hier drin ist rauchen untersagt. Und dann Pam. Als sich unsere Blicke treffen, gestikuliert sie aufgeregt, scheinbar, um mir zu verstehen zu geben, daß wir uns demnächst gemeinsam ein herzhaftes Essen gönnen. Ich schaue einfach weg.
»Herr Obmann, ist die Jury zu einer Entscheidung gelangt?«
»Ja, Sir.«
Der Gerichtsbeamte liest den ersten Anklagepunkt vor und fragt: »Befinden Sie den Angeklagten für schuldig oder nicht schuldig?«
»Nicht schuldig«, sagt der Obmann.
»Im zweiten Anklagepunkt, dem des Mordes an Hiram Salazar in Lockhart, Texas - befinden Sie den Angeklagten für schuldig oder nicht schuldig?«
»Nicht schuldig.«
Mein Herz pocht durch fünfmal »nicht schuldig«. Sechsmal, siebenmal, elf mal. Siebzehnmal nicht schuldig. Die Lippen des Staatsanwaltes kräuseln sich. Brian sitzt stolzgeschwellt auf seinem Stuhl.
»Im achtzehnten Anklagepunkt, dem des schweren Mordes an Barry Enoch Gurie in Martirio, Texas - befinden Sie den Angeklagten für schuldig oder nicht schuldig?«
»Nicht schuldig.«
Der Gerichtsbeamte verliest eine Liste meiner gefallenen Schulkameraden. Die Welt hält ihren Atem an, als er aufschaut und die Entscheidung abfragt.
Die Augen des Obmanns zucken, dann senkt sich sein Blick.
»Schuldig.«
Noch bevor er es ausspricht, spüre ich, wie die Abteilungen im Bürogebäude meines Lebens damit beginnen, den Laden dichtzumachen: Akten werden in den Reißwolf geschoben, Sensibilitäten in sorgfältig beschriftete Kisten verpackt, Lichter ausgeknipst, Alarmanlagen deaktiviert. Als die leere Hülle meines Körpers aus dem Gerichtsgebäude geführt wird, spüre ich, wie ein kleiner Mann auf dem Boden meiner Seele Platz nimmt. Unter einer nackten Niedrigwattbirne stützt er sich auf einen Kartentisch und trinkt schales Bier aus einem Plastikbecher. Das wird wohl der Hausmeister sein. Das werde wohl ich sein.
Fünfter Akt
Me ves y sufres
dreiundzwanzig
Am 2. Dezember wurde ich zum Tode verurteilt, zu vollstrecken durch tödliche Injektion. Weihnachten in der Todeszelle, Mann. Der Fairneß halber sollte ich sagen, daß Ol' Brian Dennehy sein Bestes gegeben hat. Es sieht so aus, als ob der echte Brian jetzt doch nicht die Rolle in der Verfilmung übernimmt, ich nehm an, weil er seine Fälle nicht verliert. Aber meine Berufung wird die Wahrheit ans Licht bringen. Es gibt ein neues beschleunigtes Berufungsverfahren, so daß ich im März draußen sein könnte. Sie haben das System reformiert, so daß Unschuldige nicht mehr jahrelang im Todestrakt sitzen müssen. Das kann nicht schlecht sein. Von mir gibt's nichts Neues, außer daß ich seit dem Urteil zwanzig Pfund zugelegt hab, die einiges von der Januarkälte abhalten. Abgesehen davon steht mein Leben still, während mir die Jahreszeiten nur so um die Ohren sausen.
Taylors leuchtende Augen huschen über den Bildschirm. Im Fernsehen funkeln sie sogar, doch sie bewegen sich eigenartig, als ob sie sie an einer Leine führt. Ihr Lächeln wirkt wie in Aspik eingelegt. Ich sehe ihr eine Minute lang dabei zu, wie sie mich fast, aber nicht ganz anschaut, dann kapiere ich, daß sie etwas hinter der Kamera abliest. Dort müssen wohl ihre Sätze stehen. Einen Augenblick später fällt mir auf, daß es um mich geht. Langsam einsetzendes Begreifen kühlt meine Haut.
»Und wenn dann der große Tag gekommen ist«, sagt sie, »versammeln sich alle anderen, die Zeugen eingeschlossen, um siebzehn Uhr fünfundfünfzig in der Lounge neben dem Besuchszimmer. Die letzte Mahlzeit wird
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