Jesus von Texas
daß nur die Dummen sicher sind in dieser Welt, die mit der Herde trotten, ohne immer über alles nachzudenken. Ich dagegen muß mir über den kleinsten Scheiß Gedanken machen. Schaut mich doch nur an.
Während ich in meiner Zelle sitze, dann liege, dann umhertigere, dann wieder sitze und auf meinen nächsten Gerichtstermin warte, fährt die Zeit, als Gehilfe des Schicksals, ihr Tempo verdammt nahe bis zum Stillstand runter. Der Donnerstag frißt den Mittwoch; Jesus' letzter Atemzug dehnt sich zehn Tage tief in die Vergangenheit und mit ihm Nuckles Schweigen. Es ist, als ob er nicht einmal dort war - als wäre ich der einzige, dem die Wahrheit folgt wie ein Schatten. Zur Krönung des Ganzen ruft Mom an und erzählt mir, daß Lally beauftragt wurde, einen weiteren Bericht aus Martirio zu drehen. Das alles ist typisch dafür, was man mit dem Schicksal so durchmacht - überall verlangsamt sich die Zeit, und die durchgeknalltesten Leute heißen Cindy. Und eins weiß ich jetzt: Wenn man die Tricks des Schicksals durchschaut, macht man alles nur noch schlimmer. So erstaunlich die Lebensweisheiten sind, die ich hier an euch weitergebe - sie sind auch ein Fluch. Warum? Ich sag's euch: Sobald man weiß, was passieren kann, wartet man drauf, daß es passiert.
Der Tag meines Gerichtstermins ist heiß und diesig. Ich kann die Hunde spüren, die überall in der Stadt unter Fenstern mit Klimaanlagen rumlungern und alle Katzen ihrer Wege ziehen lassen, und die Katzen, die alle Ratten ihrer Wege ziehen lassen, und die Ratten, die wahrscheinlich gerade viel zu belämmert sind, um überhaupt irgendwelcher Wege ziehen zu wollen. Ich bin der einzige, der seines Weges zieht, und zwar zum Klassenraum. Zum Gerichtssaal, meine ich.
»Erheben Sie sich.«
Seufzer und der Gestank erhitzter Kleidungsstücke branden an diesem Freitag durch den Gerichtssaal. Alle starren mich an. »Herr im Himmel«, wie Pam sagen würde. Pam schaut vielleicht später vorbei; Mom kann nicht. Von der Erinnerung an schwarzes Blut und graue Haut entstellte Gesichter stechen aus der Menge heraus - Angehörige der Gefallenen. Mr. Lechuga fixiert mich mit den tödlichen Strahlen seines Blickes, dabei ist er nicht mal Max' richtiger Vater. Lorna Speltz' Mom ist gekommen; sie sieht aus wie eine schwermütige Schildkröte. Ich spüre die Wellen der Traurigkeit, doch sie gelten nicht mir, sondern ihnen, zerstört und desolat, wie sie sind. Ich würde alles dafür geben, um sie wieder solat zu machen.
Vaine ist nicht da, an ihrem Tisch sitzt ein fettglänzender Mann in Schwarz und Weiß. Richterin Gurie wendet sich an ihn. »Mr. Gregson, ich nehme an, Sie vertreten den Staat?«
»Hundertprozentig korrekt, Ma'am. Bis vor das Bundesbezirksgericht.« Dreister Ficker.
Die Richterin nimmt Goosens Akte von ihrem Tisch und wedelt mit ihr zum Anklagevertreter rüber. »Ich habe hier ein Gutachten über den Geisteszustand des Beschuldigten.«
»Wir erheben mit allem Nachdruck Einspruch gegen eine Entlassung auf Kaution, Euer Ehren.«
»Mit welcher Begründung?«
Der Ankläger unterdrückt ein Lächeln. »Es ist wie bei dem Mann, der auf dem Boden des Sees gefunden wird: Die Kette, die der Junge geklaut hat, ist zu lang, um damit zu schwimmen. Wir machen uns Sorgen, er könnte untergehen und für immer verschwinden.« Ein Feixen geht durch den Saal - wahrscheinlich ist das der Lieblingswitz von allen hier. Es macht vor der Richterin halt, die finster auf Goosens' Akte blickt, bevor sie sich Abdini zuwendet. »Haben Sie noch irgendwas zur Unterstützung Ihres Antrags vorzubringen?«
Abdini hört auf, am Tisch zu hantieren, und blickt auf. »Hat 'ne Familie, der Junge, 'ne Menge Hobbys ...«
»Das weiß ich bereits alles«, wedelt die Richterin seine Worte mit der Hand beiseite. »Ich dachte an irgendwas Neues, zum Beispiel ... dieses Verdauungsleiden, das im Gutachten erwähnt wird.«
»Ach ja, die Toilette ...«, sagt Abdini, vor allem zu sich selbst.
»Mit Verlaub, Euer Ehren«, sagt Gregson, »wir protestieren dagegen, daß das Gericht die Hausaufgaben der Verteidigung macht.«
»Meinetwegen. Offensichtlich wurde die Verteidigung nicht eingeweiht, also belasse ich es bei diesem Hinweis.«
»Und dann, Ma'am, würden wir gern eine Aussage des Zeugen Marion Nuckles vorlegen«, sagt Gregson.
Die Augenbrauen der Richterin heben ab, das Atmen im Saal erstirbt. »Mir wurde gesagt, bis März nächsten Jahres könne keine Aussage aufgenommen werden.«
»Es handelt sich um
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