Jesus von Texas
Beifahrersitz, hoch über der Straße, und spähe durch einen schmalen Spalt zwischen dem überladenen Marienschrein auf dem Armaturenbrett und einer Gardine, an deren Fransen winzige Fußbälle baumeln. Zwischen Lucas, so heißt Pelayos Junge, und mir läuft so ein Spiel - er guckt nämlich jedesmal, wenn ich ihn anschaue, ganz schnell weg. Also beobachte ich ihn aus den Augenwinkeln und gewöhne ihn daran, wie laaaang-sam sich meine Augen bewegen. Sobald er eingelullt ist, laß ich meinen Blick plötzlich rüberschnellen und erwische ihn dabei, wie er mich anschaut. Ha! Er wird total rot und vergräbt sein Gesicht in seiner Schulter. Ich weiß auch nicht, aber irgendwie läßt das kleine Spiel richtige Wellen über mein Herz schwappen, ohne Scheiß, als ob Schmetterlinge da drin rumflattern. Versteht mich nicht falsch, ich bin immer noch dasselbe Arschloch, ich bin nicht plötzlich geläutert oder so was. Es ist nur so, daß es sich anfühlt wie eines dieser berühmten Kleinen Dinge im Leben, über die immer alle reden, ohne daß man kapiert, worum's eigentlich geht. Ich meine, könnt ihr euch einen Zehnjährigen zu Hause vorstellen, der so was macht? Ich jedenfalls nicht. Der hätte schon ein ganzes Arsenal an Beschimpfungen in Stellung gebracht, nur für den Fall, daß du es wagen solltest, ihn anzuschauen.
Wir tauchen tief hinab in die Eingeweide Mexikos, vorbei an Matehuala und San Luis Potosi, wo sich das Grün der Landschaft und mein Kater zu einem Gewebe glasierter Träume verbinden, Träume, die von zu Hause handeln und von Taylor, doch ich schieb sie für den Moment beiseite, die Seidenfäden und die Krakenarme, die sich lila und rot winden und Duftwölkchen ausstoßen, Essig und Honig in einem, denn ich will den Traum nutzen, um die muffigen, wuchernden Gedanken zu lüften, die mich täglich begleiten, Gedanken an die Toten, die nach Lavendel riechen und viel zu riesig sind, als daß man vor ihnen erschaudern kann - sie sind einfach nur da, jetzt und für alle Zeiten, wie die Volants auf dem Satin deines Sarges. Dann mühen wir uns die Anhöhen nach Mexiko Stadt hoch, und die Gedanken werden zu Stimmen, zu einem wirren Chor aller mir bekannten Menschen, die mich durch ihre Fliegengittertüren anschreien: »Am Ende, am Ende, total am Ende, die Spätnachrichten, die Spääätnaachrichten, die Naaachrichten , die Nacht! ... Richten! ...«- immer weiter, bis ich von einem fauligen, schwarzen Strudel durch eine Nacht aus schäumender Gallenflüssigkeit getrieben werde, durch Bundesstaaten, durch ganze Länder, bis ans verdammte Ende der Welt, wo er mich aufschlitzt, meine zuckenden Eingeweide rausreißt und mit gespornten Stiefeln auf ihnen rum trampelt wie in einem Nest Baby-Klapperschlangen. »Die andere Seite! Tritt zu! Mach ihn kalt, den Bastard, er bewegt sich immer noch.«
Vernon Godzilla Little.
Um Mitternacht an diesem mexikanischen Freitag im Juni erreichen wir eine Zone permanenter Gänsehaut. Ich gebe mein Fleisch und meine Knochen am nördlichen Stadtrand von Mexiko-Stadt ab und reise, entblößt bis auf die Nervenstränge, weiter nach Süden. Wir müssen höchstens ein dutzendmal fast dran glauben. Als uns die Stadt am anderen Ende ausspuckt, sind wir in keiner vernünftigen Verfassung zum Fahren, genau wie alle anderen um uns herum. Wir durchqueren Hochgebirgswälder und weichen gigantischen Autobussen aus, die erleuchtet sind wie Raumstationen, dann kommen wir durch tropische Zonen, die ihrerseits in Stein-und-Kaktus-Regionen übergehen, wo das Radio nur noch leeres Rauschen empfängt. Alles trägt dazu bei, daß ich immer angespannter werde und ständig damit rechne, Dr. Goosens' Sprechstundenhilfe zu erblicken oder die Marschkapelle der Fleischwerke - irgendwas in der Art. Ich versuche, weiter an meinem Traum zu weben, einen Faden Taylor hier, einen Faden von meinem Strand dort, dann noch einen Faden »Sailing«, doch sie fügen sich nicht mehr zu einem glatten Gewebe, sondern verfilzen zu Stricken, die sich in pulsierende Adern verwandeln. »Am Ende, am Ende, total am Ende ...« Schließlich halten wir in einer Stadt, in der es irgendwo eine Fliegenfarm geben muß. Ich kämpfe mit ein paar von den Biestern um einen schwitzenden Hot Dog, bis eine von ihnen im Senf steckenbleibt. Verdammt langsam, diese mexikanischen Fliegen. Ich schau mich um - es sieht hier haargenau aus wie in diesem Fernsehfilm, wo. die Glücksspieler aus dem Kasino ins Vorzimmer des Todes kommen und darauf warten, ob
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