Jetzt! - die Kunst des perfekten Timings
bald einen sehr großen Marktanteil erreichen. Aber je größer der Marktanteil ist, umso größer ist unser Risiko, falls es wirklich ein Problem mit Nebenwirkungen gibt. Die Ironie ist: Je erfolgreicher wir sind, umso größer wird unser Problem. Und dieses Problem … könnte sich ganz beträchtlich auf unsere nächste Jahresbilanz auswirken. Ich habe den Eindruck, wenn wir einem so hohen Risiko so nahe sind, wäre es ratsam, nur ein paar Wochen mehr zu investieren, um sicherzugehen, dass diese Nebenwirkungen nicht die Spitze eines Eisbergs sind. Eigentlich sind diese Daten doch ein Frühwarnsystem, das funktioniert hat. Vielleicht ist es ja falscher Alarm, aber ich bin eindeutig froh, dass wir es jetzt feststellen, und nicht erst, wenn es zu spät ist. (7) Auch wenn es sinnvoll ist, diese Nebenwirkungen genauer zu untersuchen, wollen wir uns doch nicht ewig aufhalten lassen. Holen wir doch eine Schätzung ein, wie lange es dauert, zu einem vertretbaren Abschluss dieser Frage zu kommen, und setzen wir dann eine Frist fest. Danach sollten wir das Risiko, das mit einer solchen Verzögerung verbunden ist, gegen die Zeit abwägen, die wir zur Erholung brauchen würden, falls sich herausstellen sollte, dass das Medikament schwerere Nebenwirkungen hat, als wir dachten. (8) Sobald das Medikament auf dem Markt ist, entzieht sich vieles unserer Kontrolle und wir stehen stärker unter dem prüfenden Blick der Öffentlichkeit. Sollten sich die Nebenwirkungen als schwerer herausstellen, als wir dachten, wird die Öffentlichkeit uns dann noch vertrauen? Mangelndes Vertrauen könnte unsere gesamte Produktlinie gefährden. Es ist ratsam, zu warten. Die Markteinführung des Medikaments ist ein großer Schritt.
Im ersten Kapitel (Sequenz) habe ich Julio Cortázars Roman Rayuela: Himme und Hölle erwähnt, in dem er es Lesern freistellt, in welcher Reihenfolge sie die Kapitel lesen. Hier also nun einige Vorschläge für andere Sequenzstrategien. Jede reagiert auf eine andere Art auf die Vorgänge im Meeting, auch auf Dinge, die im Protokoll nicht enthalten sind, auf andere Fakten über das Unternehmen und die Beteiligten, ihre nonverbalen Signale und so fort.
Sequenz: 5, 1, 4, 10, 8
Sequenz: 1, 7, 11, 17
Sequenz: 14, 1, 10, 11, 8
Ob eine dieser Sequenzen angesichts der Dynamik und Organisationskultur bei diesem Meeting funktionieren würde, kann jeder selbst entscheiden. Klar ist, dass wir einer effektiven Strategie erheblich näher gekommen sind, als wir es nach dem Lesen des Protokolls am Anfang des Kapitels waren. Die Timinglinsen haben uns ein Fenster in die weitgehend unsichtbare Zeitstruktur des Meetings geöffnet und es uns ermöglicht, eine Reaktion auf das Problem des Widerspruchs zu erarbeiten.
Lehren
Aus dem Beispiel in diesem Kapitel lassen sich einige Lehren ziehen, nicht zuletzt die, dass Timingprobleme nicht immer offensichtlich sind. Die Zeitstruktur des Meetings musste erst aufgedeckt werden. Wir brauchten die Timinglinsen, um herauszufinden, was das Vorbringen von Einwänden im Einzelnen erschwerte und wie sich diese Schwierigkeiten überwinden lassen. Es ist schwer, mit einem unsichtbaren Gegner umzugehen. Zudem brauchten wir alle sechs Linsen, um sämtliche Elemente der Zeitarchitektur zu erkennen, die die Struktur des Meetings prägt. Wenn Sie feststellen, dass Sie eine Entscheidung nur aufgrund von einem oder zwei Elementen fällen – aufgrund eines bevorstehenden Termins (Interpunktion) oder weil sich etwas schnell verändert (Tempo) –, denken Sie daran, auch andere Elemente in Ihre Überlegungen einzubeziehen. Sie können Sie vor Risiken warnen oder auf Chancen aufmerksam machen, von deren Existenz Sie nichts wussten.
Es gibt zwar noch andere Möglichkeiten, zu verstehen, was in diesem Meeting falsch gelaufen ist – schlechte Entscheidungsprozesse, unzureichende Führung, Gruppendenken, ein mangelhafter Gruppenprozess, eine Organisationskultur, die Andersdenkende mundtot macht –, aber eine Timinganalyse bietet eine einzigartige Perspektive. Sie bringt zutage, was andere Modelle übersehen oder nur flüchtig erwähnen.
Vor über 2000 Jahren beobachtete Aristoteles, wie Schiffe mit dem Mast zuerst am Horizont erschienen, und erkannte – vielleicht erstmals in der Geschichte –, dass die Erde nicht flach, sondern gewölbt ist. Wäre uns diese Tatsache aufgefallen – wie viele von uns hätten sie wohl als optische Täuschung abgetan und angenommen, es läge an der Beugung des Lichts, das unsere
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