Jetzt ist gut, Knut (German Edition)
Ich brauche dringend was zu trinken.«
Ein fremder Geist hatte von mir Besitz ergriffen. Der echten Lilli wäre bewusst gewesen, dass sie unter der Wetterjacke den alten roten Jogginganzug trug, den sie längst hatte wegwerfen wollen, dass ihre Haare vermutlich platt wie eine ausgerollte Crêpe über ihrem Kopf hingen und dass nach der Heulattacke von vorhin die Wahrscheinlichkeit schwarzer Wimperntusche-Schlieren unter den Augen bei einhundert Prozent lag. Die echte Lilli hätte auch nicht den Mut gehabt, einen fast fremden Mann zum Bier einzuladen. »Gern«, hörte ich Tim sagen, »ich könnte auch ein Glas vertragen. Bruno?« – »Bruno.« Wir grinsten uns an. Und in meinem Bauch zog sich alles zusammen.
»Ähm, Lilli, vielleicht möchtest du dich kurz frisch machen?«, sagte Tim, sobald wir in die Kneipe kamen und er im Licht mein Gesicht sah. Es war einer jener Momente im Leben einer Frau, in denen sie spontan sterben will. Bis ihr einfällt, warum sie stets eine prall gefüllte Handtasche mit sich herumträgt. Acht Minuten später saß ich ihm wieder gegenüber – mit gebürstetem Haar, frisch geschminkten Augen und glänzenden Lippen. »Ärger gehabt?«, fragte Tim und hob sein Bierglas, um mit mir anzustoßen. »Ein bisschen.« – »Möchtest du darüber sprechen?« – »Nein!« Bruno hinter dem Tresen hob erstaunt den Kopf. Das war wohl ein bisschen laut. Aber ich saß hier mit dem Sexiest Man Alive und würde sicher nicht mit ihm über meine Familienprobleme reden. »Schon gut, musst du ja nicht.« Einen Augenblick lang schwiegen wir beide verlegen und konzentrierten uns ganz auf unsere Biergläser. Plötzlich hörte ich mich sagen: »Ich hab dich vermisst. Wo hast du so lange gesteckt?«
Peinlich. Wo er seine Zeit verbrachte, ging mich schließlich so viel an wie die Preisgestaltung auf dem Fischmarkt. »Ich war ein paar Tage in Österreich.« Ich hoffte, er würde weitersprechen, aber das tat er nicht. Er sah mich nur an, lächelte dieses süchtig machende Lächeln, hob die kräftigen Augenbrauen und trank einen Schluck Pils. »Hast du da Hunde trainiert?« – »Das mach ich nicht mehr.« Lilli, du Idiotin, das hat er doch neulich schon gesagt. Und genau wie neulich lag jetzt auch wieder ein Schatten über seinem Gesicht. »Warum eigentlich nicht? Du bist doch echt gut!« Weiter so, Lilli, immer schön quälen, den Mann, das schätzt er bestimmt. »Sagen wir mal, es gab unüberwindliche Differenzen mit … mit meinem Partner.« – »Das tut mir leid.« – »Muss es nicht. Ich mach sowieso nie lang dasselbe.« Er lächelte wieder, und mein Herz schlug höher. »Jetzt will ich mit Wölfen arbeiten, davon träume ich schon lange. Deshalb war ich auch in Österreich. Im Moment versuche ich, das Geld für ein Forschungsprojekt zusammenzukriegen.« Das Leuchten in seinen Augen erinnerte mich verdächtig an Knut, wenn der von seinen Orangs sprach. Nein, jetzt nicht an Knut denken. Ich wollte, dass Tim weitersprach – und zwar über sich.
Was konnte ich ihn bloß fragen, wenn ich nicht weiter über Vierbeiner sprechen wollte? Hilfe! Ich brauchte dringend eine Redaktion, die mir Kärtchen mit den richtigen Infos vollschrieb. Aber das Leben ist bekanntlich keine Talkshow. »Das war aber ein tiefes Seufzen. Hast du etwas gegen Wölfe?« – »Nur gegen das Thema.« Hatte ich das wirklich laut ausgesprochen? Wie unhöflich. Ich sage ja schon die ganze Zeit, dass da ein fremder Geist die Macht über mich übernommen hatte. Tim lachte schallend. »Na, mangelnde Ehrlichkeit kann man dir wohl nicht vorwerfen. Noch ein Bier?« Mein erstes war nur halb leer, aber abgestanden. Ich nickte, Tim gab Bruno ein Zeichen. »Dann reden wir doch mal über dich. Wovon träumt denn Lilli Karg?«
So langsam wünschte ich mir, ich wäre zu Hause geblieben, Bison hin oder her. Während in meinem Kopf verrückte Bilder erschienen (Knut mit einem Speer im Rücken, ich selbst in inniger Umarmung mit meinem Gegenüber), rang ich mir ein Lachen ab. »Meine Träume? Ach, weißt du, ich bin eigentlich mehr so der realistische Typ. Das Träumen überlass ich anderen.« Ich wurde nicht mal rot. – »Das wäre aber sehr schade, schöne Lilli. Weißt du, was sie in Irland sagen? Nimm dir Zeit, um zu träumen, es ist der Weg zu den Sternen.« Ganz tief sah er mir jetzt in die Augen, o Gott, und dann streichelte er mir leicht mit seinen wunderschönen Fingern über die Wange. Es war eine Berührung, so zart wie die eines Vögelchens.
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