Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Jetzt wirds ernst

Jetzt wirds ernst

Titel: Jetzt wirds ernst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Seethaler
Vom Netzwerk:
Füße, Schwanz. Überall wucherten gekräuselte Härchen. Es fröstelte mich leicht. Zum ersten Mal seit Jahren. Ich ging in die Knie, streckte
mich, schlug mir meine Arme mehrmals um die Brust und schüttelte die Beine aus. Dann ging ich nach Hause.

VON DEN FRAUEN
    Jetzt waren wir die Großen. Die Alten. Die Realschüler. Wurden von den Kleinen bewundert, gehasst, umschwänzelt oder gemieden. Meinen ehemaligen Lieblingsplatz
am Gusseisernen hatte ich längst aufgegeben und freigemacht für den Nachwuchs. Mein Hintern war mittlerweile sowieso zu breit geworden, und ich schaffte es kaum, eine Arschbacke zwischen
die Gitterstäbe zu quetschen.
    Die Geschichte mit Hermann Conradi lag jetzt schon ein paar Jahre zurück, aber sie hatte mich zu einer lebenden Legende gemacht und die anderen Schüler begegneten mir mit einer
paradoxen Art herablassenden Respekts. Hin und wieder redeten sie über mich. Aber selten mit mir direkt. Vielleicht hielten sie mich für einen Psychopathen, ganz sicher jedenfalls
für einen etwas abgedrehten Sonderling.
    Die Legende trieb in den überhitzten Schülerköpfen allerdings ziemlich merkwürdige Blüten. Die tatsächlichen Geschehnisse verschwanden im Komposthaufen der Zeit, um
irgendwann als wild wuchernde Gerüchte oder nach allen Richtungen ausschlagende Fantasien neu und frisch aufzukeimen. Ein kleines Grundschülerrudel vertrat sogar die These, ich hätte
den alten Hermann Conradi persönlich die Treppe hinuntergeschmissen.
    In den Pausen lungerten Max und ich nun meistens auf einer der bunt beschmierten Holzbänke herum. Dabei gaben wir garantiert keinen hübschen Anblick ab. Die
beginnende Pubertät hatte unsere Leiber und Seelen gleichermaßen verformt, mitleidlos hatte sie unsere Gesichter und die Gedanken dahinter zerwühlt.
    Mein Körper hatte jegliche Proportion verloren, die Gliedmaßen schlenkerten unkontrolliert, der Hals war lang und dünn wie bei einem Fischreiher, und auf meinem Kopf schienen
sich die längst verschwunden geglaubten Geburtsbeulen neu und umso monströser auszuformen.
    Max hatte es noch schlimmer erwischt. Er war kaum in die Höhe geschossen, schien im Gegenteil immer gedrungener zu werden. Außerdem hatte er Pickel bekommen. Allerdings keine normalen
Pickel. Das waren leuchtende Furunkel. Feurige Geschwülste. Pulsierende Hörner. Rumorende Krater. Max’ Gesicht hatte Ähnlichkeiten mit den brutzelnden Hackbraten in Frau
Prbjiskas Küche. Oder mit der Zeichnung auf dem Cover unserer Geografiebücher: Sie zeigte die Erdoberfläche vor Millionen von Jahren, eine zerrissene, berstende, blubbernde,
Landschaft, ein Schlachtfeld der Ewigkeit.
    Mit den Schamhaaren begannen auch seltsame Gefühle und verdrehte Gedanken zu sprießen. Wir kannten uns nicht mehr aus. Mit nichts mehr. Es tat sich etwas, in uns und
um uns, so viel stand fest. Was genau das allerdings sein sollte, wussten wir nicht. Im Grunde genommen wussten wir gar nichts mehr. Alles ging durcheinander, in unseren Köpfen und in unseren
Herzen. Wir hatten Gefühlsschwankungen wie manche der Damen im Friseursalon, die manchmal einfach so, ohne ersichtlichen Grund zu heulen anfingen.
    Wir wussten nichts, doch wir ahnten etwas. Irgendetwas wartete da draußen noch auf uns. Etwas Großes, Unbekanntes, ein fremdes, grenzenlos weites Land, das zu betreten uns mit
unseren ungeschickten Quadratlatschen jetzt noch nicht erlaubt war. Wir waren wie zwei tollpatschige Junghirsche, die dumm und stolz ihr erstes Geweih in der Gegend herumtrugen. Wir schäumten
und tropften aus allen Drüsen, rieben nachts unsere Lenden an den Bettpfosten und röhrten den Mond an.
    Unsere Sehnsucht hatte keinen Ort und keinen Namen, aber eines war uns instinktiv klar: Es ging um Mädchen. Aus irgendwelchen Gründen hatten diese seltsamen
Geschöpfe, die uns vor Kurzem noch einen feuchten Furz interessiert hatten, den Schlüssel zum Paradies in ihren mit Plastikringen besteckten Fingern.
    Da saßen wir auf der Pausenhofschulbank und sahen sie vorüberziehen. Trampelnde Horden. Stolzierende Grüppchen. Kichernde Paarformationen. Wir nahmen Witterung auf, blähten
die Nüstern und sogen tief den süßen Duft der Parfumwolken ein, die die Mädchen wie eine wabernde Aura umgaben.
    Wir hatten sie durchschaut. Wussten Bescheid. Die konnten uns nichts vormachen, mit ihrem Getue, ihrem Geklimper, ihren falschen oder echten Wimpern, den perlweißen Zähnchen in den
rosigen Mündchen, den zarten Schulterhügeln, den

Weitere Kostenlose Bücher