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Jetzt wirds ernst

Jetzt wirds ernst

Titel: Jetzt wirds ernst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Seethaler
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Windpocken.
    Als ich einmal versuchte, ihm einen Besuch abzustatten, wurde ich schon an der Toreinfahrt von Frau Prbjiska abgewimmelt. Nein, ein Besuch sei jetzt nicht möglich, auch morgen nicht und
übermorgen schon gar nicht. Ruhe, Salben, kühle Bettlaken, Schlaf und möglichst viele Toilettenbesuche, darum gehe es jetzt und um nichts anderes!
    Ich ließ ein paar Schulhefte da, unter die ich unauffällig zwei neue Pornos gemischt hatte, und sah, wie Frau Prbjiska mit langen Schritten und dem wild wackelnden Haarknäuel auf
ihrem Vogelkopf die breite Kiesauffahrt hochmarschierte und im Haus verschwand.
    Irgendwoher waberte der Duft von gegrilltem Fleisch. Koteletts, Bratwurst oder so. Dicht über dem Rasen tollten zwei kleine Vögel herum. Geflatter, Geschrei, ein paar verlorene Federn,
dann zischten sie wieder ab und verschwanden in einer der mannshohen Hecken. In den Fensterscheiben des riesigen Hauses blitzten die Sonnenstrahlen. An einem der Fenster im ersten Stock stand
Martha. Ihr Blick war in die Ferne gerichtet, ihre schmale, weiße Hand zeichnete die immer gleiche Bewegungsabfolge in die Luft, weiche, fließende Linien.
    Ich kniff die Augen zusammen und bemühte mich, irgendeine Figur, ein Muster oder einen Sinn in diesen Bewegungen zu erkennen.
    Aber da war nichts.
    Das Rad der Schulzeit drehte sich inzwischen weiter, ohne dass man das Gefühl hatte, irgendwie voranzukommen. Ein Mühlstein, unter dessen Gewicht die Träume und
Hoffnungen der Schüler zu feinem Staub zermahlen wurden. Ein ewig gleicher Ablauf immer wiederkehrender Tage und Stunden.
    Bis zu diesem einen Tag.
    Pause. Alle sprangen auf und rempelten sich schreiend ins Freie. Vorne sackte Mister Subetzky, unser ausgezehrter Englischlehrer, in sich zusammen und blickte traurig auf den verlorenen Trupp
Vokabeln, der vor ihm an der Tafel Habacht stand. Er schnippte die Kreide ins Fach, wischte sich mit ein paar müden Bewegungen die Hände an seiner Bundfaltenhose ab und verließ das
Klassenzimmer.
    Ich ging wie immer als Letzter, schlenderte träge den Flur entlang, schlappte die Treppe hinunter und trat hinaus in die strahlende Schulhofhelligkeit. Draußen das übliche
Treiben. Stolzieren, Balzen, Schreien, Kichern, Heulen, Blöken, Schlägern und so weiter.
    Doch etwas war anders. Auf unserer Bank saß jemand. Ein Mädchen. Saß einfach da, hatte ein Buch im Schoß und knetete mit Zeigefinger und Daumen der linken Hand an ihrem
Ohrläppchen. Eine helle Hand war das. Und ein rosiges Ohrläppchen. Dazu eine Brille mit dunklem Hornrahmen, ein brauner Pferdeschwanz, ein weißes T-Shirt, ein kurzer, roter Rock und
ein Paar gelbe Strandsandalen. Ihre Zehennägel glänzten in einem grellen Pink. Ich hatte diese Farbe schon einmal gesehen. An einem uralten Chevrolet, der vor vielen Jahren
majestätisch wie ein Kreuzfahrtschiff durch die Straßen gezogen war und mittels eines quäkenden Lautsprechers auf dem Dach Werbung für irgendeine Veranstaltung gemacht hatte.
Damals hatte mich der Gegensatz zwischen dem strahlenden Erscheinungsbild des alten Chevy und der idiotischen Marktschreierstimme aus dem Blechtopf auf seinem Dach irritiert.
    Auch jetzt war ich irritiert. Verwirrt. Vernebelt. Kurzfristig verblödet. Alles an diesem Mädchen war perfekt. Alles passte zusammen. Alles saß, wo es hingehörte. Nicht
einmal diese kleine, weiße, mondsichelförmige Narbe knapp unter ihrem Knie störte. Im Gegenteil: Ohne diese Mondsichel hätte etwas gefehlt, das Knie wäre mir irgendwie
unfertig vorgekommen, unvollendet und fehlerhaft, wie von Gottes stümperhaftem Lehrling hingepfuscht.
    Mit Sichel aber: perfekt!
    Mein Mund war staubtrocken, auf meiner Stirn stand der Schweiß, in meinem Schädel sprangen die Gedanken herum wie Popcorn im heißen Topf. Aber ich stand da und konnte mich nicht
rühren. War festgenagelt und einbetoniert im Schulhofboden. Das traurige Denkmal eines Idioten. Ein würdiger Nachfolger für den im Treppenhaus zerschellten Hermann Conradi.
    Da hob sie den Kopf und sah mich an.
    »Willst du dich setzen?«
    Ihre Stimme war hell und leise und ein wenig brüchig. Ihre Augen waren grün.
    »Kann ich ja mal machen«, sagte ich heiser. Dann gab ich mir einen Ruck, trat mit einem ungewollt langen Ausfallsschritt auf die Bank zu und setzte mich.
    Ziemlich lange geschah nichts. Das Mädchen senkte wieder den Kopf und vertiefte sich in ihr Buch, das genau genommen gar kein Buch war, sondern eher ein Heft. Ein kleines, dünnes,

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