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Jetzt wirds ernst

Jetzt wirds ernst

Titel: Jetzt wirds ernst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Seethaler
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gelbes Heftchen.
    Mit einem übertrieben lauten Gähnen lehnte ich mich zurück, machte die Beine lang, breitete die Arme auf der Lehne aus und legte den Kopf in den Nacken. Eine gemütliche
Haltung sollte das sein. Gemütlich, zugleich auch lässig und souverän. Und warum auch nicht? Warum sollte ich es mir an einem stinknormalen Schultag, in einer stinknormalen
Zehnuhrpause nicht auf meiner Holzbank gemütlich machen dürfen?
    Eine Weile blieb ich so. Leise raschelten die Buchseiten auf dem Mädchenschoß neben mir. Die Lehnenkante begann sich unangenehm in meine Schulterblätter zu bohren. Oben im Himmel
tat sich nichts.
    Plötzlich hörte ich sie murmeln, leise, hell und brüchig. Ich blieb ganz ruhig. Keine Wolken, keine Vögel, nichts. Sie murmelte. Ganz eindeutig bildete sie kaum hörbare
Silben, Worte und Sätze. Und zwar immer wieder dieselben Silben, Worte und Sätze. Allmählich fing mein Nacken an wehzutun. Ich blinzelte. Immer noch nichts los da oben. Mit einem
weiteren lauten Gähnen richtete ich mich auf und streckte den Rücken durch. Dabei versuchte ich unauffällig hinüberzulugen. Wie zuvor knetete sie mit Daumen und Zeigefinger an
ihrem Ohrläppchen.
    »Sitzt hier und liest, was?«, bemerkte ich nach kurzer Überlegung.
    »Genau!«, sagte sie und hob den Kopf. Das Grün ihrer Augen schimmerte hinter den Brillengläsern hervor. Ich musste an das riesige Aquarium denken, dass wir als
Grundschüler einmal während eines Ausflugs in den Zoo besucht hatten. Da drinnen schwammen Lebewesen, die ich nie zuvor gesehen hatte. Manche trudelten wie zerschlissene Fetzen direkt
unter der Oberfläche herum, während andere silbrig und elegant durchs offene Wasser zischten. Ein paar potthässliche Gesellen lagen einfach nur regungslos in einer Ecke am
Kieselgrund. Hin und wieder saugte sich ein glubschäugiges Ding an der Scheibe fest und starrte zu uns hinaus. Wir pressten uns die Nasen auf der anderen Seite platt und konnten nicht genug
kriegen von den sonderbaren Vorgängen in dieser unergründlichen, grün schimmernden Welt.
    Während dieser Gedanken war ich offenbar ganz langsam nach vorne gekippt. Jetzt konnte ich mich gerade noch zusammenreißen und verhindern, dass meine Stirn gegen ihre
Brillengläser stieß.
    »Was hast du denn da?«, fragte ich und deutete mit einer lässigen Handbewegung auf das Büchlein in ihrem Schoß.
    »Tschechow«, sagte sie.
    »Was?«
    »Anton Tschechow.«
    »Aha!«
    » Die Möwe. «
    »Tierbuch?«
    »Theaterstück.«
    »Aha!«, sagte ich noch einmal. Irgendwie war mir plötzlich meine Lässigkeit abhanden gekommen, war gemeinsam mit dem letzten Restchen Intelligenz verdunstet in der warmen
Schulhofluft. Wieder kam ich mir vor wie der Idiot, der ich eigentlich immer schon gewesen war. Ich kannte diesen Tschechow nicht, ich kannte überhaupt nichts, wusste nichts, konnte nichts,
saß einfach nur dumm und steif da, schwitzte unter den Achseln und starrte in die tiefgrünen Aquarien dieses wunderbaren Mädchens.
    »Ich spiele die Möwe«, sagte sie. »Aber im Stück heißt sie Nina – hier!«
    Sie hielt mir das gelbe Heftchen unter die Nase. Eine Art Personenverzeichnis, lauter ellenlange unaussprechliche Namen. Ich folgte ihrem Finger, diesem kleinen, hellen, glatten,
süßen Finger. An der vierten Stelle im Verzeichnis blieb er liegen. Nina Michailowna Sarjetshnaja, ein junges Mädchen, Tochter eines reichen Gutsbesitzers stand da.
Ich hätte gern an diesem Finger gelutscht. Oder ihn mir zumindest an meine heiße Stirn gelegt.
    »Spielst also Theater?«, fragte ich mit tonarmer Stimme.
    »Schultheater!«, nickte sie, schlug das Heft zu und schob sich mit einer stolzen Bewegung die Brille auf der Nase hoch.
    In diesem Moment läutete die Glocke. Sofort sprang sie auf, steckte das Heftchen in eine der hinteren Rocktaschen und ging. Ich sah, wie sich das kleine, gelbe Ding bei jedem ihrer Schritte
ein wenig weiter aus der Hinterntasche schob, bis es schließlich ganz herausfiel. Das Mädchen bückte sich und streckte mir für einen herrlichen Augenblick ihren Hintern
entgegen, eine feste, knackige, tiefrote Frucht.
    Als sie im Schulgebäude verschwunden war, blieb ich noch eine Weile sitzen.
    Etwas war passiert mit mir. Etwas hatte sich verändert. Alles hatte sich verändert. Ich konnte es fühlen. Aber begreifen konnte ich es nicht. Dieses Mädchen hatte mir in
einer einzigen Zehnuhrpause mein Herz zu Brei geschlagen. Jetzt strömte der Saft ungefiltert

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