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Jetzt wirds ernst

Jetzt wirds ernst

Titel: Jetzt wirds ernst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Seethaler
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Schauspielerin, verkörpert von Herta, einem Mädchen mit stumpfen Blick, drahtigen Stirnfransen und dem vielleicht
gewaltigsten Vorbau der Schule.
    Neuntens und letztens: Trigorin , Schriftsteller, talentlos aber gewieft, dargestellt von einem langen, dürren Strick namens Friedhelm Usterlitz.
    Das war die Hermann-Conradi-Schauspieltruppe.
    Wir lasen also das Stück. Wort für Wort. Satz für Satz. Seite für Seite. Es war zäh, es klang grausam, es dauerte ewig, doch irgendwann war es vorbei. Alle klappten ihre
Heftchen zu und fingen gleich an, mit leuchtenden Gesichtern aufgeregt durcheinandezuplappern. Nur Lotte schien mit ihren Gedanken immer noch ganz bei den Russen zu sein. Sie saß mit
geschlossenen Augen da, das offene Heft auf ihrem Schoß und memorierte stumm den Text. Ihre Lippen bewegten sich lautlos und zart, wie der Flügelschlag eines Schmetterlings.
    In dieser Nacht träumte ich von einem pinkfarbenen Chevrolet. Ich saß am Steuer und trieb den Chevy über die endlosen Weiten der russischen Steppe. Es war warm.
Ein schwerer Duft lag über der Landschaft, der Geruch von frisch gehäckseltem Weizenstroh, von heißem Borschtsch und kaltem Wodka, von frischer Kuhscheiße und den dampfenden
Unterröcken der Bauerntöchter. Irgendwo über einem dunstverschwommenen Teich ging die rote Sonne unter wie eine Tomate in der Soljanka. Plötzlich legte sich eine Hand auf meine
Schulter. Aus den Augenwinkeln konnte ich die hellen Finger erkennen. Ich trat das Gaspedal durch bis zum pinkfarbenen Bodenblech, wir schossen über den Asphalt, weit hinter uns versank die
Tomate endgültig im Suppenteich, die Brühe ging über, ergoss sich überallhin und tauchte diese ganze fette, russische Gegend in ein saftiges Blutrot. Ich legte meine Hand auf
ihre und begann ihre Finger zu kneten. Das Leben ist okay, dachte ich, im Großen und Ganzen ist dieses Leben doch okay! Dann hörte ich ein Stöhnen hinter mir und drehte mich um.
    Kälte. Ein Schatten. Ich erstarrte. Auf der Rückbank saß nicht Lotte, sondern Frau Gorac und ein schmaler, ganz in schwarz gekleideter Mann.
    »Darf ich vorstellen«, sagte Frau Gorac und drückte ihre hellen Finger wie Stahlnägel in das Fleisch direkt über meinem Schulterblatt, »Anton Pawlowitsch
Tschechow!«
    Tschechow tippte sich kurz mit dem Zeigefinger an die Krempe seiner Melone, die das Gesicht darunter in einen dunklen Schatten legte.
    »Jedes Leben muss den Naturgesetzen entsprechend einmal ein Ende haben!«, sagte er mit einer seltsam samtigen Stimme. Dann beugte er sich ganz langsam vor, bis sein Gesicht aus dem
Schatten auftauchte. Aber das war gar kein Gesicht. Es war ein augenloses, vernarbtes Stück Fleisch mit einem blutigen Riss in der Mitte. Der Riss öffnete sich, ein stinkendes Loch tat
sich auf, und Tschechow lachte los. Gleichzeitig streckte er seine dürren Arme aus, um sich meinen Hals zu krallen. Seine Finger waren dünn und heiß wie glühende Drähte,
sofort zogen sie sich zusammen und brannten sich mit einem Zischen in meine Haut ein. Meine Zunge schwoll an und füllte meinen Mund wie ein Stück Holz. Ich versuchte mich zu wehren und
kriegte irgendwie seinen Hals zu fassen, ganz genau konnte ich den hüpfenden Kehlkopf unter meinen Fingern spüren. Ich packte noch fester zu und warf mich mit meinem ganzen Gewicht
zurück. Etwas knackte laut und ich kippte auf den Seitensitz. In den Händen hielt ich einen ekelhaften Klumpen, einen teigigen Kloß, formlos, bleich und –
    Ich fuhr hoch und schnappte nach Luft. Meine Augen brannten. Das Herz schlug wie verrückt. Ich saß nackt und aufrecht im Bett. Das Laken und die Kissen waren
schweißdurchtränkt. Obwohl das Fenster offen stand, war es im Zimmer stickig und heiß.
    Draußen im Kirschbaum raschelte etwas. Unten in der Küche hörte ich meinen Vater rumoren. Es roch nach frischem Kaffee. Ganz leise dudelte das Radio. Alles halb so schlimm,
dachte ich, während sich mein Herz allmählich wieder beruhigte, alles halb so schlimm!

KÜNSTLERISCHE AUSEINANDERSETZUNGEN
    Die Proben fanden zweimal die Woche statt. Die hölzerne Sprossenwand wurde mit wirr bemaltem Packpapier überklebt und sollte die endlosen Weiten der russischen
Steppe, beziehungsweise die noch endloseren Sehnsüchte der russischen Steppenbewohner symbolisieren. Ein paar Gymnastikmatten dienten uns als Bühnenboden. Das hatte zur Folge, dass wir
uns ziemlich wackelig und tölpelhaft durch die Szenen bewegten, was Frau Gorac aber nicht

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