Jetzt wirds ernst
Sie nickte. Und unter unseren Hintern knarrten leise die Stühlchen.
Die Turnhalle gehörte zum ältesten Teil des Schulgebäudes. Vermutlich stand sie sogar schon Jahrzehnte vor der Errichtung der ganzen Schule da. Ein
Überbleibsel aus uralten Zeiten, als die Buben noch in engen Strumpfhosen und die Mädchen in bodenlangen Kleidern geturnt hatten. Es war der einzige Raum, in dem es noch schlimmer stank
als in der Mensa. Der Schweiß und die Tränen einer Unzahl gequälter Kinder hatten sich in alle Poren hineingefressen. Der rissige Holzboden, die Barren, Trampolins, Kletterstangen
und Keulen waren gesättigt vom Leid ganzer Schülergenerationen. Gelüftet wurde nur einmal im Jahr. Die staubigen Fenster lagen hoch oben, knapp unter dem Dach, und der Schulwart
hatte es mit dem Kreuz und mit dem Knie und mit den Ellenbogen und war außerdem sowieso meistens zu besoffen, um noch eine Leiter erklimmen zu können.
Die Zeiger der verbeulten Uhr über dem Basketballkorb standen auf eine Minute vor drei, als ich die Halle betrat. In der Hallenmitte, genau auf der Mittellinie des Fußballfeldes,
stand ein fast voll besetzter Stuhlkreis, nur ein einziger Stuhl war noch frei. Ich erkannte Frau Gorac. Und das Chevrolet-Mädchen. Die Sache wurde ernst.
Alle Blicke waren auf mich gerichtet. Das Geräusch meiner quietschenden Schuhsohlen auf dem alten Holzboden durchbrach die gespannte Stille im Raum. Ich setzte mich auf den freien
Stuhl.
Frau Gorac stand auf, trat zu mir, legte mir ihre Hand auf die Schulter, und blickte in die Runde.
»Darf ich vorstellen: Semjon Semjonowitsch Medwedenko, unser neuer Lehrer!«
Ich war dabei. Ich hatte die wahrscheinlich mieseste Rolle im ganzen Stück abgekriegt, den kleinkarierten und geldgeilen Dorflehrer, aber ich war dabei.
Wie sich herausstellte, war dies erst die zweite Probe, eine sogenannte Leseprobe. Ich hatte also außer der Rollenverteilung und ein paar Terminabsprachen nichts versäumt.
Die Probe begann. Das heißt, alle kramten ihre gelben Heftchen hervor und ruckelten ihre Hintern auf den harten Holzstühlen zurecht, dann erzählte Frau Gorac mit glühenden
Backen etwas über dieses Jahrtausendgenie Tschechow, las den Titel und die Regieanweisungen von der ersten Seite ab, klappte ihr Büchlein wieder zu und sah mit erwartungsvollem Blick zu
mir herüber.
Der Lehrer hatte den ersten Satz des Stückes. Aus irgendwelchen Gründen interessierte er sich für Mascha, eine Art Magd oder Köchin oder so etwas, die von einer
winzigkleinen, dafür umso fetteren Zwölftklässlerin namens Tinka gespielt wurde.
»Warum gehen sie eigentlich immer in Schwarz?«, las ich laut.
»Aus Trauer um mein Leben. Ich bin unglücklich«, antwortete Tinka weinerlich.
»Warum? Ich verstehe das nicht … Sie sind gesund, und ihr Vater ist zwar nicht reich, aber doch nicht unvermögend. Da habe ich es um einiges schwerer als Sie. Ich bekomme
alles in allem dreiundzwanzig Rubel im Monat, und davon geht noch etwas für die Altersversorgung weg, und trotzdem trage ich keine Trauer.«
»Um das Geld ist es mir nicht zu tun. Auch ein Armer kann glücklich sein.«
Und so weiter. Es war fürchterlich. Und es wurde immer schlimmer. Es traten auf in dieser Reihenfolge:
Erstens: Sorin , ein hinkender Gutsbesitzer, dargestellt von einem vierschrötigen Kerl namens Heiner Heinz, der sich beim Theaterkurs nur angemeldet hatte, weil er wegen eines
angeborenen Hüftschadens nicht Fußball spielen durfte.
Zweitens: Trepljow , ein Möchtegern-Dichter, in Gestalt des irgendwie katholisch aussehenden Milchbübchens Oscar, der als Liebling aller Lehrer und vieler Mädchen galt und
deswegen im Schulhof ziemlich oft mit dem Gesicht im Dreck lag.
Drittens: Jakow , ein Arbeiter, verkörpert von Paul, einem schweigsamen Burschen mit niedriger Stirn und hängender, immerfeuchter Unterlippe.
Viertens (endlich!): Nina , Tochter eines reichen Gutsbesitzers, die Titelfigur, die Möwe, gespielt von dem Chevrolet-Mädchen, die übrigens Lotte hieß.
Fünftens, sechstens und siebtens: Dorn , ein dauergeiler Arzt, Schamrajew, ein cholerischer Gutsverwalter und Polina, seine Frau, dargeboten von einem pickeligen
Brillenträger namens Kurt, dem rachitischen Zehntklässler Steffen und der teiggesichtigen Slavina, die ihren Text mit einem merkwürdigen Akzent vortrug, der sich anhörte, als
wäre jedes einzelne Wort durch einen Fleischwolf gedreht worden.
Achtens: Arkadina, eine alternde, ziemlich überdrehte
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