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Jetzt wirds ernst

Jetzt wirds ernst

Titel: Jetzt wirds ernst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Seethaler
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weiter zu stören schien.
    Es herrschte Anwesenheitspflicht. Alle sollten bei jeder Probe dabei sein, auch wenn sie gerade nicht dran waren. Das vermittelt ein Gespür für die Abläufe, Entwicklungen und
Stimmungen im Stück, meinte Frau Gorac. Außerdem sollten wir Darsteller voneinander profitieren, aus den eigenen und den Fehlern der anderen lernen, uns gegenseitig unterstützen,
uns loben, oder den Umgang mit konstruktiver Kritik erlernen. Ensemblegeist und soziale Kompetenz, so nannte Frau Gorac das. Theoretisch klang es gut.
    Praktisch lief es anders.
    Bei der ersten richtigen Probe betraten diejenigen, deren Szene gerade dran war, den Mattenboden, standen schwankend da und fingen an, ihren Text aufzusagen. Die anderen saßen davor und
schauten zu.
    Nach ungefähr drei Minuten entbrannte der Streit. Die Meinungen, wie die eigene Rolle, beziehungsweise wie das ganze Stück denn eigentlich zu interpretieren sei, gingen stark
auseinander. Lotte sah natürlich ihre Nina als Drehund Angelpunkt des Dramas, sie sei ja schließlich die Titelfigur, die Möwe, ein zarter, verirrter Meeresvogel, den das Schicksal
in diese geistlose Provinz verblasen hatte und der nun gezwungen sei, hoch über dem Dunst von Dummheit und Ignoranz seine einsamen Runden zu ziehen, eine Suchende, eine Leidende, eine ewig
Sterbende.
    Gegen diese Interpretation wurde sofort vehement Einspruch erhoben. Herta schob ihren riesigen Busen in die Szene und verwies darauf, dass Dummheit und Ignoranz vielleicht eher in einem
Vogelhirn als auf einem russischen Gutshof mit jahrhundertlanger Tradition zu finden seien und im Übrigen ja wohl selbstverständlich ihre Arkadina die tragische, weil missverstandene
Hauptfigur des Stückes sei.
    Dem wiederum widersprach das Milchbübchen Oscar. Mit bebender Stimme bat er darum, dem Werke Tschechows doch den ihm zustehenden Respekt zu erweisen, immerhin habe sich der Dichter ja
gerade in der Möwe ein Denkmal in Form der Rolle des Trepljow gesetzt, deren Interpretation ja nun er, Oscar, die Ehre habe zu übernehmen, und zwar ganz alleine dank Frau
Gorac’ weiser Entscheidungskraft.
    Daraufhin erhob nun Heiner Heinz seine Stimme und bemerkte, dass Oscar vielleicht doch bitteschön lieber seine obergescheite Fresse halten und sich die Arschkriecherei für einen
späteren Lebensabschnitt aufsparen solle, da er ihn ansonsten persönlich ungespitzt in die Hallenwand rammen werde.
    Allgemeine Unruhe brach aus.
    Tinka und Herta steckten ihre zischelnden Köpfe zusammen und blickten hasserfüllt zu Lotte hinüber, die hinten an der Sprossenwand lehnte und mit stiller Inbrunst ihre Rolle vor
sich hinmurmelte. Kurt, Steffen und Slavina überbrüllten einander mit ihren jeweils einzig richtigen und annehmbaren Stückinterpretationen, während Paul den Turnsaal
verließ, um, wie er sich ausdrückte, in einer ausgiebigen Sitzung die Toilette bis unter die Decke vollzuscheißen.
    Friedhelm Usterlitz machte laut und vernehmlich darauf aufmerksam, dass er jetzt hiermit seinen ihm gebührenden Platz einnehmen werde. Dann stellte er seinen Stuhl mitten auf die
Gymnastikmatten, setzte sich und begann mit einem breiten, irgendwie alpenländischen Akzent seinen Text aufzusagen.
    Die Unruhe erhob sich zum Sturm.
    Herta fing an, schrill keifend an Friedhelm und seinem Stuhl zu rütteln. Tinka legte sich in eine Ecke und schluchzte laut. Kurt, Steffen und Slavina hatten Frau Gorac umringt und
brüllten mit der verzweifelten Überzeugungskraft der Argumentlosen auf sie ein.
    Meine Frage, wann denn jetzt die Probe eigentlich losgehen solle, wurde mit höhnischem Gelächter bedacht. Am höhnischsten lachte Oscar, woraufhin ihm Heiner Heinz seine flache
Hand vor die Stirn klatschte und er erst wie eine Sirene aufheulte, danach schnell zusammensackte und still liegen blieb. Lotte hatte inzwischen die Sprossenwand erklommen, saß jetzt auf der
obersten Sprosse, raufte sich die Haare und rief mit sehnsuchtsvoll verschleiertem Blick Tschechows Worte in die stinkende Leere der Turnhalle hinaus.
    Das Milchbübchen Oscar rührte sich wieder und versuchte unauffällig in Richtung Ausgang zu kriechen, wurde aber von Paul, der soeben mit zufriedenem Gesichtsausdruck von der
Toilette zurückgekommen war, an beiden Beinen gepackt und auf die Szene zurückgezerrt.
    Plötzlich flog der erste Medizinball. Irgendjemand hatte den gut gefüllten Sportgerätekasten neben der Sprossenwand entdeckt. Weitere, immer schwerere Bälle folgten.

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