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Jetzt wirds ernst

Jetzt wirds ernst

Titel: Jetzt wirds ernst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Seethaler
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überall in meinem Körper herum. Vor dieser Pause war ich ein unbedarfter Junge mit
schlenkernden Gliedmaßen, komischen Fantasien und der Aussicht auf eine Karriere im väterlichen Friseursalon. Nach der Pause, nämlich jetzt, war ich ein hormonzerwühltes Wesen,
das sich zu häuten und seine glatte Jungenlarve abzustreifen begann, um sich unter einer völlig unbekannten, schmerzenden Sehnsucht einem einzigen Ziel entgegenzuwinden: Ein Mal, ein
einziges Mal in diese pralle, rote, süße Frucht zu beißen!

TSCHECHOW
    Noch am gleichen Nachmittag besorgte ich mir Die Möwe in derselben gelben, heftchendünnen Ausgabe wie die meiner neuen Bekanntschaft, verzog mich auf mein
Zimmer, kroch mit einer Taschenlampe unter die Bettdecke und fing an zu lesen.
    Es war zäh. Dieser Tschechow schien ein ausgemachter Langweiler zu sein. In seinem Stück passiert so gut wie gar nichts: Ein paar Leute hocken in Russland auf einem öden Landsitz,
reden ununterbrochen und gehen sich dabei ungeheuerlich auf die Nerven. Ein junger Typ will Schriftsteller werden, seine Mutter nörgelt ständig an ihm herum, seine Freundin spielt
Theater, ein echter Schriftsteller tritt auf und redet gefühlsduselig daher, ein Arzt, ein Lehrer und eine Art reicher Bauer schauen vorbei, am Abend wird ein Stück aufgeführt, das
geht gehörig in die Hose, die junge Schauspielerin brennt mit dem Schriftsteller durch, kommt jedoch nach ein paar Jahren zurück, wieder wird herumgesessen und viel geredet, alle scheinen
irgendwie unglücklich zu sein, die Schauspielerin haut erneut ab, der junge Schriftsteller erschießt sich und aus.
    Es war ein einziges Elend. Aber ich musste da durch.
    Am nächsten Tag kam ich schon lange vor Unterrichtsbeginn zur Schule, deren Mauern in den ersten Sonnenstrahlen glühten. Ich ging direkt ins Lehrerzimmer und bat Frau Gorac um ein
vertrauliches Gespräch unter vier Augen.
    Frau Gorac war eine der jüngeren Lehrerinnen und hatte sich erst vor Kurzem aus dem sicheren Schoß der pädagogischen Akademie freigestrampelt. In unserer Klasse war sie bislang
noch nicht aufgekreuzt, aber unter den anderen galt sie als warmherzig, gutgläubig und engagiert bis zur Selbstaufgabe, sie wollte das Beste für ihre Schüler und Schülerinnen,
zu allen Zeiten, zu allen Gelegenheiten und mit aller Macht, auch wenn diese selbst eigentlich erst einmal gar nichts wollten, außer ihre Ruhe und möglichst keine Schwierigkeiten.
    Frau Gorac unterrichtete Deutsch und Geschichte. Außerdem leitete sie den von ihr selbst ins Leben gerufenen Oberstufen-Theaterkurs und war gleichzeitig auch Veranstalterin, Regisseurin,
Kostümschneiderin und Oberbeleuchterin der ersten geplanten Theatervorführung in der langen, trockenen Geschichte der Hermann-Conradi-Gesamtschule.
    »Was kann ich für dich tun?«, fragte sie.
    Um ungestört reden zu können, waren wir in ein leeres Grundschulklassenzimmer gegangen und saßen uns nun auf zwei winzigen Kinderstühlchen gegenüber. Anscheinend
verschwendete Frau Gorac an Äußerlichkeiten aller Art nicht allzu viele Gedanken. Das betraf Sitzgelegenheiten offenbar genauso wie Kleider, Frisuren oder Körperformen. Ihr kleiner,
gedrungener Körper steckte in einem verwaschenen Blümchenkleid. Ihre Brüste ragten wie Schubladen aus dem würfeligen Oberkörper, die Arme waren kurz, dicklich und schlaff,
die Beine stämmig und von einem Netz bläulicher Adern durchwebt. Hals gab es keinen, dafür umso mehr Kinn. Sie hatte glänzende Backen, auf denen ständig rötliche
Flecken tanzten, und ihre Augen strichen rastlos in ihren dunkel umrandeten Höhlen herum.
    »Ich möchte Theater spielen«, sagte ich.
    Frau Gorac nickte misstrauisch. Dabei fing ihr Kinn an, sich in Bewegung zu setzen, und geriet in eine Art sanft schwabbelnde Schwingung.
    »Hast du schon mal gespielt?«, wollte sie wissen.
    »Klar!«, log ich. » Das tödliche Picknick im Wald .«
    »Kenne ich nicht.«
    »Muss man auch nicht kennen!«, beruhigte ich sie. »Mein Lieblingsautor ist außerdem sowieso Tschechow. Anton Pawlowitsch Tschechow!«
    Ich hatte den Namen zu Hause auswendig gelernt und so lange vor mich hingesprochen, bis ich ihn flüssig und ohne zu stolpern aufsagen konnte. Frau Goracs Gesicht hellte sich sofort auf,
über ihre Backen zogen die rötlichen Flecken wie Fetzenwölkchen über einen frühmorgendlichen Herbsthimmel.
    »Die Probe beginnt morgen Nachmittag um drei«, sagte sie ernst.
    »Wo?«
    »In der Turnhalle!«
    Ich nickte.

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