Jetzt wirds ernst
Dann
Springseile, Sandsäcke und Keulen. Dazwischen flatterten die Textheftchen wie kleine, gelbe Vögel durch die Luft. Unter den Füßen und Leibern verschoben sich die Bodenmatten,
verkeilten sich, richteten sich auf wie verkantete Eisschollen, brachen wieder zusammen. Schreien. Wimmern. Heulen. Brüllen.
Und wahrscheinlich wäre das alles so auch noch eine ganze Weile weiter gegangen, wenn Frau Gorac nicht zur anderen Turnhallenseite hinübermarschiert wäre, das graue Kästchen
in der Wand geöffnet, und einen der vielen darin befindlichen Knöpfe gedrückt hätte. Ein gellend lauter, unerträglich quäkender Ton erklang. Die Spielzeitsirene. Als
Einzelgeräusch war es auszuhalten. Aber jetzt hörte es nicht mehr auf. Immer wieder drückte Frau Gorac den Knopf, ruhig, rhythmisch und gnadenlos. Wir ließen voneinander ab,
hielten uns die Ohren zu, krochen unter die Gymnastikmatten und schrien um Erlösung.
Ganz plötzlich war es aus. Still war es im Turnsaal. Niemand sagte etwas. Niemand rührte sich. Und in meinen Ohren klingelte ein winziges Glockenspiel, golden und zart.
VON DÄMMERTRÄUMEN UND ARSCHBISSEN
Jeden Morgen, schon während des Aufwachens, tauchte Lotte vor mir auf. Ihre grün schimmernden Augen, die rosigen Ohrläppchen, der sanfte Mund, die weichen
Schultern, die kleine weiße Mondsichel unter dem Knie.
Schnell holte ich mir einen runter, und Lottes Dämmerbild verpuffte gemeinsam mit meinem unterdrückten Lustschrei in der stickigen Zimmerluft. Aber spätestens am
Frühstückstisch war sie wieder da. Ich schmierte mit dem Messer die Silhouette ihrer Brüste auf meinem Butterbrot nach. Sah ihr Gesicht aus der Kaffeetasse zu mir herausschimmern,
wie das Antlitz einer wunderschönen Leiche auf dem Grund eines schwarzen Teiches. Oder ich holte mir ein Stück Leberwurst aus der Dose und formte daraus ein Ohrläppchen, auf dem ich
gedankenvoll herumknetete.
Mein Vater saß mir gegenüber und tat, als ob er nichts bemerkte. Er blätterte konzentriert im Monatsjournal der Friseurgewerkschaft und sagte kein Wort.
Ich kam jeden Tag schon lange vor den anderen zur Schule und lungerte am Eingangstor herum. Mit dem Rücken lehnte ich mich gegen das warme, alte Holz und schnippte Steinchen in den Gully
oder gegen die Reifen vorbeifahrender Autos. Irgendwann kam der Schulwart angeschlappt. Ich hörte ihn drinnen leise fluchend mit dem Schlüssel hantieren und gleich darauf ging
schwerfällig ächzend das Tor auf. Jedes Mal stierte er mich für einen Moment misstrauisch an, nickte, stammelte irgendetwas Unverständliches und verschwand wieder.
Nach den Lehrern und den Kleinen mit ihren hopsenden Schulranzen trudelten nach und nach auch die Oberstufenschüler ein. Spätestens zu diesem Zeitpunkt holte ich mein Textheftchen
hervor. Ich war der einsame Träumer am Schultor, eine Künstlerseele, verloren in dieser verrückten Welt von Dummheit und Ignoranz. Konzentriert blätterte ich im Heft und
murmelte vor mich hin. Nur hin und wieder blickte ich versonnen hoch, um über das Gelesene nachzudenken. Aber in Wirklichkeit interessierten mich Tschechows Worte einen Scheißdreck. Ich
blickte nur hoch, um Lotte nicht zu verpassen. Und ich verpasste sie nie.
Schon von Weitem sehe ich sie um die Ecke kommen. Ihre Ohrläppchen leuchten wie kleine Pastelllaternen. Hinter ihrem Nacken baumelt der Pferdeschwanz. Die braunen Haare glänzen. Die
grünen Augen sowieso. Mit gesenktem Kopf, scheinbar ins Textheft vertieft, fange ich an, auf und ab zu gehen. Doch aus den Augenwinkeln betrachte ich ihren Hals. Den mattzarten Glanz ihrer
Haut. Das fadendünne Goldkettchen, das unter dem Kinnschatten hervorblitzt. Dabei wird mir ein wenig heiß und in den Schläfen wummert es dumpf. Am liebsten würde ich das
Scheiß-Textheft in den Gully stopfen, mir schreiend das Hemd vom Leib reißen, mich vor ihr auf den Bauch werfen und mit beiden Armen ihre Knöchel umschlingen. Stattdessen lege ich
den Kopf bedeutungsvoll in den Nacken, blinzle ins Sonnenlicht und deklamiere halblaut Tschechow-Sätze.
Schließlich ist sie da. Sieht mich an, lächelt, geht vorüber, verschwindet in der Schule. Zurück bleibt der Duft ihres Shampoos. Aprikose mit einem Hauch Vanille. Ein paar
Augenblicke bleibe ich noch benommen stehen, dann stecke ich das Heft weg und gehe hinein.
Die Proben gingen weiter. Die ersten Stürme hatten sich einigermaßen gelegt und es flogen keine Sportgeräte mehr durch die Luft. Die meisten von uns
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