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Jetzt wirds ernst

Jetzt wirds ernst

Titel: Jetzt wirds ernst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Seethaler
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Schulter abgelegt hätte.
    »Sechzehn …«, wiederholte er leise.
    Eine Weile geschah nichts. Aber dann ging alles schnell, viel zu schnell für mich. Er riss mir mit einer blitzschnellen Bewegung das Hemd auf, beugte sich zu mir, legte sein Gesicht an
meine Brust und sog mit einem tiefen Schnaufen meinen Geruch in sich ein.
    Ich stand da und konnte mich nicht rühren, hörte nur das Schnaufen und spürte die widerlichen, nassen Barthaare an meiner Haut.
    Plötzlich wich er wieder zurück und stand für einen Augenblick leicht schwankend da. Und auf einmal sah ich, wie ihm eine einzelne Träne aus dem Auge quoll. Langsam lief sie
die Wange hinunter, verfing sich kurz in einer der Runzeln, rollte weiter und verschwand im Bartgestrüpp. Er nahm seine Hand von meiner Schulter und schlurfte in die Ecke zurück, aus der
er vorhin auferstanden war. Dort kauerte er sich zusammen, holte sein Schnapsfläschchen hervor und trank. Auf dem Dach trippelte jetzt wieder die Taube.
    Ich öffnete die Tür und trat ins grelle Mittagslicht. Die Luft war stickig und heiß, die Erde trocken wie frische Asche.
    In meiner Hosentasche klickerte etwas. Die Perlenkette. Ich fischte sie heraus und hielt sie gegen die Sonne. Die Perlen schimmerten milchig. Jede einzelne hatte einen winzigen, kaum sichtbaren
Punkt an der Oberfläche. Ich steckte eine der Kugeln in den Mund und biss ganz leicht zu. Sie zersprang sofort. Ich schleuderte die Kette von mir, sah, wie sie durch die Luft sauste und
irgendwo hinter einem Schotterhaufen verschwand.

ZWEI GOLEMS IM ACKER
    Die letzten Schultage des Jahres durchlief ich wie ein Statist in einer aufwändigen, aber unglaublich öden Filmproduktion. Ich war irgendwie am Rande dabei, hatte
jedoch mit der eigentlichen Sache nichts zu tun.
    In der Garderobe hinter der Turnhalle ließ ich Sportlehrer Wolareks Gebrüll über mich ergehen. Ich sah, wie sein Gesicht feuerrot anlief und einen wunderschönen Kontrast zu
seinem blitzblauen Trainingsanzug bildete. Ich sah, wie die Wutadern aus seinem Hals quollen und seine Spucketröpfchen wie glitzernde Kometen durch die Luft zischten. Für den Likör
bezahlte ich einen Wucherpreis, legte großzügig noch ein paar Münzen dazu und lief zu meinem nächsten Termin hoch ins Direktorenzimmer.
    Direktor Priem saß wie immer hinter seinem Schreibtisch. Mittlerweile war ich zu groß für körperliche Züchtigungen, also versuchte er es auf die psychologische Tour.
Der Alkohol sei des Teufels Gallenflüssigkeit, zischte er mit flackerndem Blick, und er sei von Gottes gefallenem Sohn nur zu einem einzigen Zweck auf die Erde gespien worden: uns Menschen zu
gefügigen Kreaturen der Hölle abzurichten! Der Alkohol umspüle Hirne und Herzen leicht verführbarer Christenkinder, er weiche sie auf, durchtränke und zersetze sie, bis sie
sich schließlich endgültig auflösten in einem stinkenden Sumpf von Sünde, Dummheit und Unzucht. Säufer und Schnapsbrenner seien nichts weiter als der durchseuchte Sud am
Boden unserer Gesellschaft, raunte er verschwörerisch, das verbinde sie im Übrigen mit den Huren und Zuhältern, den Sozialisten und Muslimen, den Tierschützern und
Diskothekenbesitzern und vor allem mit den Vertretern der so genannten »Freien Pädagogik«. Die Vertreter der sogenannten »Freien Pädagogik«, meinte Direktor Priem
und fuchtelte dazu mit einem abgekauten Bleistift in der Luft herum, hätten nämlich nichts Geringeres im Sinn, als das Schulsystem im Besonderen, das komplette Bildungssystem im
Allgemeinen und darüber hinaus überhaupt alle vom Menschen erdachten und unter Fleiß, Mühe und Andacht errichteten Systeme zu infiltrieren, von innen her auszuhöhlen und
zum endgültigen Einsturz zu bringen.
    »Satan ist freier Pädagoge!«, schrie Direktor Priem mit sich überschlagender Stimme. »Und in Satans Adern fließt Schnaps!«
    Sein Blick flirrte eine Weile durch den Raum, ehe er an dem kleinen Holzkreuz an der Wand hängen blieb. Priem sah zu Jesus hoch, Jesus sah zu Priem hinab. Irgendwie schienen sich die beiden
zu mögen.
    Nachdem ich das Zimmer unbemerkt verlassen und die Tür hinter mir zugezogen hatte, hörte ich sie noch eine ganze Weile leise miteinander plaudern.
    Ich erwischte Max auf der Toilette. Seit Tagen hatte ich erfolglos versucht, ihn abzupassen, doch jetzt war es soweit. Wir gaben uns nicht die Hand. Wir sahen uns nicht an. Wir
redeten aneinander vorbei, aber wir verstanden uns trotzdem. Wir würden uns auf dem Acker

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