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Jetzt wirds ernst

Jetzt wirds ernst

Titel: Jetzt wirds ernst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Seethaler
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treffen. Am letzten Schultag, gleich nach der Zeugnisverteilung, um zwei Uhr nachmittags. Keine
Waffen. Keine Weiber. Keine Zeugen.
    Nachdem Max gegangen war, packte ich aus und ließ meinen Strahl hoch über dem Pissbecken gegen die verschmierten Kacheln plätschern. So hoch wie nie zuvor.
    Der letzte Schultag war kühl und grau. Die Wolkendecke hing tief über der Stadt, nur hin und wieder löste sich ein kurzer Schauer und fegte die Straßen
leer.
    Die Grundschüler hatte man in elterlicher Feinarbeit zurechtgemacht und aufgeputzt. Überall rannten sie jetzt herum in ihren schwarzen Anzügen, den rosaroten Kleidchen und mit
ihren akkurat frisierten Köpfen, aufgeregt durcheinanderzwitschernd wie zwergenhafte Erwachsene auf ihrer ersten Betriebsfeier. Die Größeren gaben sich entspannt und sahen aus wie
immer. Die Lehrer stolzierten vor den Tafeln hin und her und hielten salbungsvolle Ansprachen, bevor sie endlich mit den Zeugnissen herausrückten.
    Mit dem ersten Klingelton der Schulglocke begann die Massenflucht. Die Türen flogen auf, und mit einem einzigen, lang gezogenen Rülpser entleerte sich die Schule und spuckte ihren
kopflosen Inhalt aufs Trottoir. Die Kleinen wurden von den Eltern empfangen, in die Autos verfrachtet und sofort in irgendwelche Urlaubsidyllen abtransportiert. Die Älteren bildeten aufgeregt
schwatzende Grüppchen, die sich aber bald wieder auflösten. Einer nach dem anderen machte sich auf den Nachhauseweg. Vereinzelt konnte man in den umliegenden Straßen noch ein
dumpfes Grölen oder ein spitzes Kreischen hören.
    Ich stand alleine da, im Rücken das leise ächzende Schulgebäude und vor mir das Leben, mit dem ich noch nichts anzufangen wusste.
    Ich ging einfach drauflos, schlenderte ziellos durch die Straßen. In der Hinterntasche knisterte mein Zeugnis, die amtliche Bescheinigung meiner Durchschnittlichkeit. Eine einzige Note
tanzte aus der Reihe. Soziale Kompetenz: mangelhaft stand da fett und blau gedruckt.
    Ich ging in einen kleinen Laden und kaufte mir ein Eis. Vielleicht sollte mich der Geschmack von Vanille an irgendwelche glückliche Zeiten erinnern. Zeiten, in denen ich noch in einer Ecke
des Friseursalons gesessen hatte und Mädchen noch keine Rolle gespielt hatten.
    Tat er aber nicht.
    Um Punkt vierzehn Uhr betrat ich den Acker. Der Acker war im Grunde genommen gar kein Acker, sondern einfach nur eine weite, brachliegende Fläche hinter dem Stadtrand.
Flach, unfruchtbar und staubig. Vor vielen Jahren wollte man hier einen Flugplatz errichten. Damals stolperten haufenweise Investoren, Stadtväter und andere wichtige Leute über die
Felder, gestikulierten wild, schrien durcheinander, breiteten riesige Pläne aus, vermaßen den leeren Raum, kauften den einsichtigen Bauern ihre Grundstücke ab und enteigneten die
uneinsichtigen. Es war eine Zeit der Hoffnung und des Aufschwungs.
    Bald aber kamen die ersten Zweifel. Außer der alten Bürstenfabrik und dem privat betriebenen Trompetenmuseum hatte unsere Stadt weder Industrie noch nennenswerte
Fremdenverkehrsattraktionen aufzuweisen. Sie lag am räumlichen und geistigen Rande des Landes, fern von allen Verkehrsknotenpunkten, Entwicklungsflächen oder Naturschutzgebieten.
Überregionale Politiker, die sich aus irgendwelchen Gründen in unsere Gegend verirrt hatten, mussten während ihrer Ansprachen vor dem Rathaus immer wieder auf Spickzettel schielen,
um sich des Namens unserer Stadt zu entsinnen.
    Eines Tages während der Rathausversammlung platzte es schließlich aus einem mutigen, weil schon ziemlich angeheiterten, Gemeinderatsmitglied heraus: »Wer zum Teufel braucht
eigentlich einen beschissenen Flugplatz?«
    Für einen Moment war es still in der Versammlung. Das mutige Mitglied stand leicht schwankend da, sah etwas beschämt in die Runde und setzte sich wieder.
    Dann räusperte sich jemand und mit einem Mal brach der Sturm los. Jeder versuchte die anderen zu überbrüllen. Man wollte wissen, wer denn eigentlich auf diese hirnverbrannte
Flugplatzidee gekommen war. Wer denn diese ganze Geschichte zu verantworten hätte. Und vor allem, wo denn die vielen Investoren abgeblieben waren, die sich noch vor Kurzem in der Stadt und auf
den umliegenden Feldern herumgetrieben hatten und denen man die Taschen und die Ärsche mit Steuergeldern vollgestopft hatte?
    Niemand wusste eine Antwort. Also wurde ein Gemeindebediensteter angewiesen, Brötchen, Salzstangen, Wurst und Hühnerbeine in ausreichender Menge zu besorgen,

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