Jetzt wirds ernst
Stadt abstrahlten. Die Ärmeren oder Klügeren waren
geblieben und lagen entweder daheim auf ihren Sofas oder am Grasufer des städtischen Rinnsals auf ihren Badetüchern. Im Schatten der Bäume hockten die Pensionäre wie müde
Vögel, dösten vor sich hin und träumten von den guten Zeiten, die sie nie erlebt hatten.
Ich war den ganzen Tag unterwegs gewesen, hatte mich herumgetrieben und müde gelaufen, mich anschließend in die Straßenbahn gesetzt und war mehrmals die ganze Strecke
abgezuckelt, von Endstation zu Endstation und wieder zurück. Ich hatte versucht, die Zeit zu dehnen. Aber jetzt war es soweit.
Die Glasstückchen am Kristalllüster klingelten leise, als ich eintrat. Vater saß auf einem Höckerchen und blätterte in einem seiner Friseurjournale.
Freche Sommerfrisuren für jedes Alter, Bubikopf ist wieder im Kommen, rotblonde Strähnen für den Herrn, etwas mehr Mut bei Dauerwellen und so weiter.
»Ich gehe nicht mehr in die Schule!«, sagte ich.
Er hob den Kopf und sah mich an.
»Wie bitte?«
»Ich gehe nicht mehr in die Schule!«, wiederholte ich und verschränkte die Arme vor der Brust.
Doch plötzlich kam ich mir dämlich, ungeschickt und irgendwie kindlich vor, wie ich so dastand, mit meinen dünnen Armen vor der schmächtigen Brust.
Vater nickte ruhig, legte die Zeitschrift auf das Tischchen zurück und fing an, mit zärtlichen Fingern welke Blätter aus den Blumenköpfen in der Vase vor ihm zu zupfen.
»Und was willst du machen?«, fragte er.
»Weiß nicht«, sagte ich.
Er hielt die fein gewellten, hauchdünnen Blättchen gegen das Licht und sah sie sich eine Weile an. Eines nach dem anderen. Dann ließ er sie in seiner Schürzentasche
verschwinden, zog stattdessen einen kleinen Kamm heraus und fuhr sich damit durch die wenigen verbliebenen Haare.
»Du kannst hier anfangen«, sagte er. »Das weißt du, oder?«
Ich nickte.
»Du kriegst ein volles Lehrlingsgehalt.« Er steckte den Kamm zu den Blüten in seiner Schürzentasche zurück. »Und ich bringe dir das Handwerk bei!«
Fast gleichzeitig wurden unsere Blicke abgelenkt. Auf dem Boden zu unseren Füßen bewegte sich ein kleines Haarknäuel in federleichten Hopsern Richtung Eingangstür. Wir
sahen, wie es an der Fußmatte kurz hängen blieb, sich wieder löste und weiterhopste, bis es schließlich endgültig in der Ecke des Türrahmens Halt machte und leicht
zitternd sitzen blieb.
»Was ist ein volles Lehrlingsgehalt?«, wollte ich wissen.
Er sagte es mir, ich nickte zögerlich, er legte noch einen Zehner drauf, ich nickte weniger zögerlich, wir gaben uns die Hand, und am nächsten Tag fing ich mit der Lehre an.
Die Aufgaben der ersten Monate waren überschaubar. Den Boden fegen, Spiegel, Kronleuchter und Auslagenscheiben putzen, die Pflanzen abstauben und wässern, vor den
Kunden die Tür öffnen, hinter ihnen wieder schließen, Guten Tag, Wie geht es Ihnen, Auf Wiedersehen, Kaffee kochen, Kekse anbieten, mit einer kleinen Rosshaarbürste die
Härchen von Blusen und Hemden entfernen, zur Bank rennen, um Wechselgeld zu holen und so weiter. Es war erbärmlich, aber leicht. Und schon bald erklomm ich die nächste Sprosse auf
der Karriereleiter. Ich begann mit dem Haarewaschen.
Es genügt nicht, die Haare einfach nur zu waschen. Die Haarwäsche ist ein ritueller Akt. Die Abläufe müssen genau passen, die einzelnen Arbeitsschritte und Handgriffe
müssen fließend ineinander übergehen.
Leise plätschert der lauwarme Strahl. Mit einem schweren Ächzen lassen sich die Damen und Herren nach hinten kippen und ruckeln ihre grauen Köpfe im Waschbecken zurecht. Jetzt das
Handtuch unter den Nacken, leicht anfeuchten, das lauwarme Wasser vorsichtig mit zarten Fingern auf dem Kopf verteilen, die Haare nach hinten legen, sie führen, streicheln, nicht ziehen, nicht
reißen, kein Kneifen, kein Ziepen. Ruhige Bewegungen, zart und geschmeidig. Nun das Shampoo. Zur Auswahl stehen rosa oder grünlich, Pfirsich oder Apfel. In den Händen liegen die
knöchernen Schädel, leicht wie hohles Holz. Die Finger durchwühlen ihre grauen Federn, verteilen das Shampoo, schäumen es auf, massieren es ein. Kreisende Bewegungen mit den
Fingerkuppen. Immer die Kopfhaut mitbewegen, nie nur darauf herumreiben. Haaransatz vorne, Oberkopf, Schläfen, an den Ohren kurz verweilen, die Ohrläppchen kneten, zart, aber nicht zu
zart, und weiter: Hinterkopf, Haaransatz hinten, absetzen, einatmen und gleich alles noch einmal von vorne. Die Alten
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