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Jetzt wirds ernst

Jetzt wirds ernst

Titel: Jetzt wirds ernst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Seethaler
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stöhnen, murmeln, seufzen oder schnarchen. Man kann in Ruhe ihre Gesichter
betrachten, die faltigen Truthahnhälse, die labbrigen Wangen, die fleckigen Stirnen, die Runzeln um die Augen, die bläulichen Adern an den Schläfen, die krummen Härchen an den
Backenknochen, die winzigen Hautfetzchen, die sich von den Ohren lösen und in den Strudel des Waschbeckens fallen.
    Jetzt wieder der lauwarme Strahl. Warm genug? Nicht zu heiß? Nicht zu kalt? Angenehm? Die dünnen Bächlein im Nacken und an der Stirn müssen mit zwei kleinen Handtüchern
aufgefangen werden. Ein wenig trockenreiben. Nicht zu leicht. Nicht zu fest. Reiben, nicht rubbeln. So ist es gut. So ist es schön. Da lächeln sie, mit knirschenden Gebissen, während
die Augäpfel unter den mürben Lidern hin- und herflutschen. Noch einmal Ächzen, Stöhnen, Seufzen. Dann ist es vorbei.
    Benommen und wie in Zeitlupe rappeln sie sich hoch, schauen ein wenig glasig ins Leere und schlurfen mit knacksenden Gelenken und einem sachte wankenden Handtuchturm auf dem Kopf zu Vater
hinüber.

EIN GÖTTLICHES LUDER, SHAKESPEARE UND DER HEILIGE ERNST
    Nach der Arbeit kamen manchmal Max und Lotte vorbei. Wir trieben uns in der Gegend herum, gingen Eis essen, besuchten die heruntergekommene Einkaufspassage in der Stadtmitte
oder setzten uns einfach auf einen Kinderspielplatz ganz in der Nähe des Salons und quatschten. Beziehungsweise: Die beiden redeten, und ich hörte zu. Meistens ging es um die Zukunft und
die damit verbundenen Aussichten. Es war eine rosige Zukunft. Und glänzende Aussichten. Max schwadronierte begeistert vom Abitur, dass er mit geringstmöglicher Kraftanstrengung bestehen
wollte, von ausufernden Schulabschlussfeiern, unüberschaubaren Alkoholmengen und riesigen Haufen, die man Direktor Priem auf seinen Schreibtisch scheißen würde, beziehungsweise mit
denen man vielleicht sogar die ganze Schule zuscheißen würde und zwar mitsamt komplettem Inventar, Hausmeister und Lehrermaterial. Bei solchen Vorstellungen konnte Max derartig in Fahrt
geraten, dass ihm der Saft auf der Unterlippe perlte und er sich mit der flachen Hand die Schenkel grün und blau schlug vor Begeisterung.
    Lotte tat entrüstet, kicherte aber mit. Ihre Vorstellungen von der Zukunft waren ein wenig weitsichtiger. Es ging um Reisen, gemeinsame Studien in fernen Ländern, Karrieresprünge,
Villen, Swimmingpools und Himmelbetten, einen tennisplatzgroßen Esstisch und um eine vielköpfige Kinderschar mit offenen Mündchen und glänzenden Kulleraugen.
    Jetzt kicherte Max.
    Manchmal nahm Lotte ihre Brille ab, legte sie vorsichtig auf die Bank, lief zur Schaukel hinüber, setzte sich auf das morsche Holzbrettchen und begann wie wild auf- und abzuschwingen. Max
und ich blieben sitzen und starrten zu ihr hinüber. Sahen, wie sie höher und höher flog. Der Rock flatterte mit dem Pferdeschwanz um die Wette. Die hellbraunen Beine glänzten in
der Sonne. Eine Sandale löste sich und sauste durch die Luft und die Chevrolet-Zehennägel leuchteten in der Sonne.
    Am höchsten Punkt jedes Vorwärtsschwunges juchzte sie. Ein kurzer, heller Ton in den Himmel hinaufgejubelt, danach ging es wieder abwärts. Neben mir hörte ich Max leise
schniefen.
    »Schau dir dieses kleine Luder an!«, sagte er. »Dieses göttliche kleine Luder!«
    »Ja«, sagte ich und lehnte mich möglichst souverän und entspannt zurück. Nur dieser merkwürdige Krampf in meiner linken Hand wollte sich nicht lösen, und
meine Finger krallten sich in den Oberschenkel, bis der Hosenstoff knirschte.
    Die Weinstube Zum Heiligen Ernst hatte ihre besten Zeiten lange schon hinter sich gelassen. Im Grunde genommen war sie nur noch ein versifftes Loch mit Theke. Sie lag an einer
maroden Ecke direkt neben der Straßenbahnendhaltestelle. Im Gehsteig vor dem Eingang klaffte seit Jahren ein ausgespültes Schlagloch, in dem sich regelmäßig die Besoffenen auf
ihrem Heimweg Knöchel, Knie und Hüften brachen. Doch niemand kam auf die Idee, das Loch zu stopfen. Es gehörte irgendwie dazu.
    Die Eingangstür klemmte und ließ sich nur mit ziemlicher Gewalt öffnen. Drinnen war die Luft gesättigt von Rauch und Alkoholdünsten aller Art, dazu mischte sich an
manchen Abenden der heiße, würzige Dampf einer dicken Bohnensuppe, die gleichzeitig das einzige Speiseangebot und die Spezialität des Hauses darstellte. Der Raum war klein und
düster. Da die Fenster schwarz überstrichen und zudem auch noch von außen mit Brettern vernagelt

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