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Jetzt wirds ernst

Jetzt wirds ernst

Titel: Jetzt wirds ernst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Seethaler
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waren, drang kaum Tageslicht ins Innere. Von der Decke hing eine blecherne
Industrielampe mit verstaubter Glühbirne. An den niedrigen Wänden klebten bis unter die Decke uralte Filmplakate und vergilbte Zeitungsausschnitte. Die dunklen, fast schwarzen Bodendielen
waren im Laufe der Zeit weich geworden wie ein alter Teppich und schienen die Geräusche der Schritte einfach zu schlucken. Ein paar Tische. Ein paar Stühle. Ein schiefer
Garderobenständer. Alte Flaschen, in denen schiefe Kerzen steckten. Eine ungeheure Menge an Aschenbechern. Und die Theke.
    Die Theke war das Prunkstück des Lokals. Ein riesiges Ungetüm, schwarz, speckig und abgegriffen. Eine Steilwand, oft bestiegen aber nie bezwungen, ein dunkler Fels, an dessen Fuß
sich die abgestürzten Alkoholleichen schon zu hohen Haufen stapeln würden, hätte man sie nicht nach jeder Sperrstunde aufs Neue entsorgt.
    Der Wächter dieses Massivs war der Heilige Ernst persönlich. Wie ein ausgedörrter, ziemlich verwachsener Baum ragte er hinter seiner Theke hervor und überblickte die
Geschehnisse. Niemand hatte ihn diesen Platz jemals verlassen sehen.
    Ich hatte die Weinstube nur zufällig entdeckt. Als ich bei einem meiner Spaziergänge nach Feierabend daran vorbeischlenderte, ging plötzlich die Tür auf und ein verdorrtes
Mütterchen torkelte ans Sonnenlicht. Sie machte ein röchelndes Geräusch, spuckte in das Schlagloch zu ihren Füßen und ging weiter. Wie ein vom Wind getriebenes Blatt
segelte sie die Straße hinunter und verschwand hinter der nächsten Ecke.
    Die Tür hatte sich nur kurz geöffnet, aber ich hatte einen schnellen Blick hineinwerfen können. Es war, als hätte sich ein Spalt in Raum und Zeit aufgetan, eine Luke in die
Unterwelt, ein geheimer Eingang ins düstere Unterbewusstsein der Stadt.
    Ich holte tief Luft und trat ein. Meine Augen brauchten einen Augenblick, um sich an die Dunkelheit im Raum zu gewöhnen. Ich bestellte einen Pfefferminztee und setzte mich damit an einen
kleinen Tisch in der hintersten Ecke. Außer mir waren noch drei oder vier andere Gestalten da. Jeder saß alleine an einem Tisch, und starrte entweder in sein Glas oder in die
Kerzenflamme vor ihm. Es herrschte konzentrierte Ruhe, nur unterbrochen von gelegentlichem Räuspern, Schluckgeräuschen und dem Klickern von Feuerzeugen. Ich lehnte mich zurück und
atmete aus. Wir waren Brüder im dunklen Mutterleib, trieben dahin in stiller Gemeinschaft, und doch jeder ganz für sich, im Schein seines eigenen Kerzenlichts.
    Von diesem Tag an kam ich fünfmal die Woche. Jeden Tag zu gleichen Uhrzeit, nämlich abends um halb sieben, öffnete ich die Tür, trat ein, bestellte Pfefferminztee und setzte
mich an meinen Tisch in der Ecke. Und jedes Mal hatte ich ein oder zwei kleine gelbe Heftchen bei mir. Jeden Tag ein oder zwei neue Theaterstücke.
    Ich begann mit Tschechow. Onkel Wanja. Drei Schwestern. Der Kirschgarten . Der Bär und Der Heiratsantrag. In allen Stücken ging es irgendwie um Langeweile,
Hoffnungslosigkeit, Stumpfsinn, Trägheit, Blödheit, unglückliche Ehen, noch unglücklichere Affären, um Verbitterung, Schulden, Suff und Schüsse aus untauglichen
Pistolen. In der kalten Weite der russischen Steppe verdorrten die Leute wie trockengelegte Sumpfblumen. Es war eine einzige, deprimierende Hölle.
    Andererseits war alles lustig. Zum Schreien komisch. Zum Totlachen. In ihrer immerwährenden Verzweiflung sprühten Tschechows Figuren geradezu vor Witz. Wie Clowns über ihre viel
zu großen Latschen stolperten diese Leute über ihre eigene Lebensunfähigkeit und gingen mit einem letzten Quietschen unter.
    Danach nahm ich mir die anderen Russen vor: Gogol, Bulgakow, Ostrowskij, Gorki. Es war immer dasselbe: Suff, Leid, Tod, Verderben – und über allem ein wildes, raues Lachen wie
ein winterliches Gewittergrollen.
    Ich sprang über den großen Teich: O’Neill, Williams, Miller und so weiter. Die Amerikaner waren genauso versoffen, liebeskrank und todeslustig wie die Russen. Dafür war es
meistens wärmer. Man trug kurze Hosen, spielte Baseball, und das Eis klirrte im Whiskeyglas und nicht unter den Füßen.
    Dann die Skandinavier: Menschen auf der Suche. Zittrige Seelen in der schneebedeckten Einöde, explodierende Triebe in der Mittsommernacht. Strindberg war offensichtlich so etwas wie ein
voyeuristischer Seelenklempner. Ibsen ein kompletter Spinner. Aber interessant.
    Nach einem Ausflug zu den Schweizern (akkurat, unbestechlich, etwas

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