Jetzt wirds ernst
moralisierend) und den Österreichern (durchgedreht, witzig, hasszerfressen) landete ich bei den alten Griechen.
Bei denen ging es richtig zur Sache. Da wurde nicht lange geredet, man schlug sich lieber gleich die Köpfe ein. Frauen wurden entführt, Städte erobert und abgefackelt, Mütter
wurden beschlafen, Väter, Kinder und andere Verwandte umgebracht, man stieg in den Hades hinunter oder in den Olymp hinauf, pausenlos wurde gefeiert, gesoffen und herumgehurt. Atemlos
saß ich in meiner verstunkenen Ecke und stolperte diesen verrückten Griechen hinterher, jeder Absatz eine neue Wendung, jede Seite ein neues Abenteuer, jedes Büchlein eine neue
Welt.
Jetzt kam Goethe. Starker Dichter, doch vom Theater hatte er offenbar nicht so viel Ahnung. Faust I hatte ja noch Substanz. Doktor, Teufel, Gretchen und so weiter. Aber schon die
Fortsetzung, Faust II , war nur noch ein wildes Durcheinanderwürfeln von allen möglichen Figuren. Jeder traf jeden zu den verschiedensten Zeiten und Anlässen, und dazwischen
rannten die beiden Helden herum.
Goethes Kumpel Schiller hatte die Geschehnisse insgesamt besser im Griff. Alles sehr deutsch. Große Liebe. Große Helden. Großes Geschrei. Große Bürokratie.
Ich blieb noch eine Weile in Deutschland: Büchner, Lessing, Hauptmann, Kleist. Und vor allem Brecht. Dieser Brecht versuchte erst gar nicht, auf die Tränendrüse zu drücken,
oder die Leute mit moralinsaurem Geschwafel bei der Stange zu halten. Er erzählte einfach klipp und klar was Sache war und aus. Hätte er sich auch noch die ganzen Lieder gespart,
wären die Stücke ziemlich perfekt gewesen.
Ein paar Italiener, Spanier, einige Engländer, zwei, drei Franzosen, ein verrückter Rumäne und so weiter. Stück für Stück, Seite für Seite, Schicht für
Schicht blätterte sich die komplette Theatergeschichte vor mir auf. Es gab Chilenen, Portugiesen, Araber, einen Afrikaner, zwei Türken, drei Israelis, haufenweise Iren; es gab witzige
Schweizer, verträumte Deutsche und Österreicher, die gar nicht österreichisch schrieben. Es gab alles. Die ganze Welt in ihrem bunten Irrsinn tummelte sich zwischen den Seiten dieser
kleinen gelben Heftchen.
Eines Tages griff ich zu meinem ersten Shakespeare. Aus irgendwelchen Gründen hatte ich mir den alten Engländer bislang aufgespart. Aber jetzt war er dran.
Es war Montag, weit nach Mitternacht. Die Stimmung unter den Stammgästen im Heiligen Ernst war still und konzentriert. Eine Menge Alkohol war geflossen, eine Menge würde noch
fließen. Ich hatte mir eben den dritten Pfefferminztee geholt und eine angenehme Müdigkeit machte sich in mir breit. An der Theke rutschte einer der besoffenen Schweiger von seinem
Hocker, plumpste hart auf den Dielen auf, murmelte eine unverständliche Entschuldigung, kroch wieder hoch und trank still weiter.
Ich holte Was ihr wollt hervor und begann zu lesen. Und schon nach etwa fünf Seiten war alles klar. Dieser Shakespeare war der Beste. Besser als Tschechow oder Brecht. Besser sogar
noch als die alten Griechen. Besser als alle anderen. Ich holte ein letztes Mal tief Luft, dann ließ ich mich fallen und tauchte ein in Illyriens verrückte Welt. Ich schlüpfte in
jede einzelne Rolle. Ich wurde zum liebeskranken Herzog, machte mich als Haushofmeister zum Idioten, stolperte als versoffener Narr umher, kämpfte für das Glück meiner Schwester und
gab mein Leben für das meines Bruders. Der Strudel riss mich mit, es gab kein Entkommen, keine Umkehr, kein Halten mehr. Es war ein Rausch.
Erst als ich die letzte Seite zugeschlagen hatte, atmete ich wieder aus. Meine Augen brannten. In meinem Kopf schwirrte es. Der Gastraum hatte sich ein wenig geleert. Der Schweiger saß
einigermaßen sicher auf seinem Hocker. Zwei Männer hatten ihre Köpfe zusammengesteckt und brabbelten miteinander in müdem Flüsterton. An einem Tisch an der Wand hockte
eine ältere Frau mit einer verfilzten Pelzmütze auf dem Kopf und starrte in ihr Likörglas.
Ich griff zum nächsten Stück: Macbeth . Wieder derselbe Strudel, derselbe Rausch, dasselbe Verlangen, es möchte nie aufhören, die Gier nach dem nächsten Absatz,
der nächsten Seite, der nächsten Wendung. Ein rasender, taumelnder, atemloser Flug über die blutgetränkte schottische Hochebene, über deren Horizont am Ende der
abgeschlagene Kopf Macbeths wie eine dunkle Sonne unterging.
Ich war erledigt. Fix und fertig. Fühlte mich wie durchgewalkt und ausgequetscht. Und großartig.
Am nächsten
Weitere Kostenlose Bücher