Jetzt wirds ernst
Tag war ich wieder da. Und am Übernächsten. Und am Tag darauf. Romeo und Julia, Maß für Maß, Julius Cäsar, Coriolanus, Hamlet, König
Lear, Der Sturm, und so weiter. Kaum klappte ich ein Heftchen zu, machte ich mich über das nächste her. Das letzte Stück war Antonius und Cleopatra. Die größte,
traurigste und unerhörteste Liebesgeschichte der Welt. Als ich damit fertig war, klappte ich das Heftchen zu, legte meinen Kopf auf den biergetränkten Tisch und weinte zehn Minuten lang.
Danach stand ich auf, tappte ein wenig benommen zur Theke, bezahlte vier Pfefferminztees und ging.
Draußen wurde es langsam hell. An der Haltestelle stand die erste Straßenbahn zur Abfahrt bereit. Hinter den Scheiben waren ein paar gesenkte Köpfe zu erkennen. Ganz vorne stand
der Fahrer. Er hatte die Mütze hoch aus der Stirn geschoben, beide Hände in den Hosentaschen und blickte müde seinem Zigarettenqualm hinterher. Ich machte mich auf den Nachhauseweg.
Bald würden die Rollläden knattern und die Lüsterkristalle klirren. Es war Freitag. Der Tag meines ersten Haarschnitts.
SCHNEE, STAUB, BLUT UND BIER
In den letzten Monaten hatte ich fleißig geübt. Nicht wie Vater an alten Ziegenfellen, sondern gleich an einem mit verschiedenen taiwanesischen Echthaarperücken
bestückten Styroporkopf. Ich war weder begabt, noch sonderlich interessiert, aber Vaters Begeisterung trieb die Sache voran. Unter seinen Anweisungen hatte ich mir Kammführung und
Schnitttechniken antrainiert, hatte Lockenwickler angesteckt, Dauerwellen geformt, Strähnchen gefärbt, getönt, gepinselt, geklebt und geföhnt. Schließlich war ich
bereit.
Vater hatte alles eingefädelt und vorbereitet. Frau Pawlik war die mit Abstand älteste Stammkundin des Salons. Jeden letzten Freitag im Monat kam sie pünktlich um acht Uhr morgens
in ihrem klapprigen Rollstuhl angewackelt. Vater empfing sie für gewöhnlich schon vor der Eingangstür und schob sie an ihren Stammplatz direkt bei der Auslagenscheibe. Sie sprach
nie. Kein einziges Wort. Trotzdem war alles klar: Schneiden, legen, föhnen, ohne waschen. Immer dieselbe Länge. Immer dieselbe Façon. Es war eine Abmachung, die Vater und sie vor
Jahrzehnten ein für alle Mal getroffen hatten. Kaum saß die Alte vor dem Spiegel, schlief sie ein. Ihr Kopf kippte nach vorne, und sie fing an, leise im Schlaf zu ächzen.
Genau hier setzte der Plan ein. Das Risiko war gering. In all den Jahren war Frau Pawlik noch nie während des Haareschneidens aufgewacht, immer brauchte es ein paar Klapse auf den frisch
ondulierten Hinterkopf, um sie zu wecken. Das würde heute nicht anders laufen.
Vater setzte sich auf den Nachbarstuhl, verschränkte seine Arme vor der Brust und nickte mir zu. Ich legte mir Frau Pawliks Kopf zurecht und glättete vorsichtig die dünnen,
silbrigen Haare. Ein paar winzige, gelbe Pflanzenpollen hatten sich darin verfangen. Ich zupfte sie heraus und sah, wie sie gemächlich zu Boden trudelten.
Dann legte ich los. Es war keine Kunst. Oft genug hatte ich am Styroporkopf gesessen und Altweiberfrisuren eingeübt. Und genauso oft hatte ich meinem Vater bei der Arbeit zugesehen. Die
weißen Köpfe unserer Kundinnen waren außerdem keine Felder für Experimente. Hier war solide Arbeit gefragt. Frisuren, die keine Überraschungen boten, mit denen sich ihre
Trägerinnen auskannten und die notfalls auch noch im Grab einigermaßen sitzen würden.
Ich begann die Spitzen zu kürzen. Langsam arbeitete ich mich voran, an der Stirn beginnend, über die Schläfen und weiter nach hinten zum Nackenansatz. Danach nochmals von vorne,
noch ein paar Millimeter kürzer, lieber zu wenig als zu viel, nur kein Risiko eingehen.
Es lief problemlos. Fast langweilig.
Im Raum war es warm und still. Scherenklappern, Frau Pawliks leise ächzende Schlafgeräusche, hin und wieder ein unterdrücktes Gähnen meines Vaters und über allem das
kaum hörbare Summen unzähliger, winziger Lebewesen im Dschungel der Salonpflanzen.
Aus den Augenwinkeln sah ich, wie sich Vaters Kopf schräg nach hinten neigte, wie er noch ein-, zweimal hochzuckte, bis er schließlich endgültig nachgab und mit leicht
gequetschter Wange an der Kopfstütze liegen blieb.
Jetzt hatte ich meine Ruhe. Leicht wie eine ausgehöhlte Kokosnuss lag Frau Pawliks Kopf in meinen Händen. Darauf sausten Kamm und Schere kreuz und quer umher und ließen silbrige
Haarspitzen zu Boden rieseln wie Schneeflöckchen im Dämmerlicht. Schön sah das aus. Ich
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