Jetzt wirds ernst
wusste, wie man das Publikum bediente!
Prompt applaudierten die Leute. Wie die Verrückten klatschten, pfiffen und jubelten sie ihrem Helden zu.
Plötzlich kreischte jemand auf. Ein durchdringender Ton, der dieses ganze Jubelgeschrei durchbrach und für einen Augenblick über dem Platz zu schweben schien, wie der Warnschrei
eines Tieres.
Doch er kam zu spät. Als Mercutio sich umdrehte, traf ihn der Hieb genau zwischen die Augen. Es gab ein hässliches Geräusch, ähnlich dem Knacken von morschem Holz. Sofort
schoss Blut aus der Wunde, ein dünner, kräftiger Strahl. Er taumelte zurück, versuchte mit einer Hand sein Gesicht zu schützen und mit der anderen um sich zu schlagen. Aber er
konnte nichts mehr sehen. Der Degen zischte sinnlos durch die Luft. Tybalt hinkte in einem weiten Bogen um ihn herum. Er war langsam, sein Blick war stumpf vor Schmerzen und Anstrengung, in seinem
Schenkel klaffte ein tiefes Loch.
Doch schließlich war er da. Mit beiden Händen holte er aus und schlug zu. Es war ein verheerender Hieb. Das Leder über Mercutios Rücken platzte auf wie eine Wurstpelle.
Darunter kam das dunkelrot glänzende Fleisch zum Vorschein. Mercutio sackte ein, kippte nach vorne und schlug hart mit dem Gesicht aufs Pflaster.
Die Leute tobten, ein paar Männer kamen auf den Platz gerannt, um Tybalt die Waffe zu entreißen, andere begannen wie wild aufeinander einzuschlagen, Frauen drückten ihre
heulenden Kinder zwischen die Rockfalten, in den umliegenden Gassen näherte sich das Geklapper von Pferdehufen, Kommandos wurden gebrüllt, Degen gezogen, eine Wut, ein Geschrei, ein
Lärm, ein unglaubliches Chaos in Veronas Straßen.
Mercutio öffnete den Mund.
»Was ist passiert?«, fragte er ganz leise, während ein dünnes Blutbächlein über sein Kinn lief. »Was ist mit meinem Kopf passiert?«
Seine Stimme klang ziemlich merkwürdig. Dünn, zittrig, gebrochen. Wie die Stimme einer alten Frau. Einer sehr, sehr alten Frau.
Es war Frau Pawlik.
Verona mitsamt seinen Geschehnissen verpuffte. Vor mir im Sessel saß die Alte und starrte in den Spiegel. In ihrem Gesicht wechselten in rasender Geschwindigkeit die Ausdrücke
ungläubigen Erstaunens und starren Entsetzens.
Sie sah fürchterlich aus. Ihr Kopf erinnerte mich an ein schlampig gerupftes Huhn. An ein von Heuschrecken zerfressenes Kornfeld. An das Hinterteil eines hautkranken
Straßenköters.
»Was ist passiert?«, fragte sie noch einmal.
Ich begann zu stottern, erklärte, dass es nicht den geringsten Grund zur Besorgnis gäbe, dass das alles schon seine Richtigkeit habe. Ich erzählte etwas über neue
Schnitttechniken, von Modewellen, die kommen und gehen, von Mut zu neuen Formen und so weiter. Doch nichts von alldem schien Frau Pawlik beruhigen zu können. Im Gegenteil. Ihr sonst eher
gelbliches Gesicht lief scharlachrot an, und dann legte sie los.
Von einem gottverdammten Hundsfott war die Rede. Von einem grenzdebilen Halbaffen, dem man sein nussgroßes Hirn in einer wochenlangen Prozedur aus dem Schädel prügeln sollte, und
zwar mit seinen eigenen Haarbürsten. Von einem Stück Dreck auf Beinen. Von einem psychopathischen Schwerverbrecher, den man kopfüber in einen Fleischwolf stecken, und das Gehackte
gleich hernach an die Kanalratten verfüttern sollte. Und so weiter.
Plötzlich stand Vater da. Mit einer Hand packte er mich am Kragen und zog mich einfach vom Stuhl weg. Die andere Hand legte er beruhigend auf Frau Pawliks zerrütteten Hinterkopf. Er
sah mich nicht an. Er sagte nichts. Kein Wort. Stattdessen fing er an zu arbeiten. Stumm und konzentriert beackerte er das zerstörte Feld.
Ich zog meinen Kittel aus und hängte ihn an die Garderobe neben der Tür. Einer der Ärmel pendelte noch ein paar Augenblicke aus, als wolle er mir zum Abschied nachwinken.
Ich öffnete die Tür und schlich ins Freie. Die Sonne schien. Ein paar Kinder rannten mit wild schlenkernden Schultaschen auf dem Rücken vorbei. Ich ging um den Salon herum und
öffnete das Hintertürchen zum Garten. Das Gras war dunkelgrün und saftig. Die Kräuter unter dem Baum und das Grünzeug in den Beeten wucherten. Ich ging quer über den
Rasen zur Hecke hinüber, schob die dicht beblätterten Zweige auseinander und kroch hinein. Meine Kuhle war mir über die Jahre viel zu klein geworden. Kaum vorstellbar, dass ich hier
noch vor gar nicht allzu langer Zeit gemütlich meinen Hintern zurechtruckeln hatte können. Jetzt hockte ich hier wie ein Truthahn im Spatzennest.
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