Jetzt wirds ernst
Aber es war ruhig und ich war allein. Ich
rollte mich so eng wie möglich zusammen, schloss die Augen und hörte dem zarten Rascheln der Blätter zu.
Gegen Abend wurde es kühl. Das Kreuz tat mir weh, die Beine, der ganze Körper. Ich kroch aus der Hecke und ging ins Haus. In der Küche saß Vater beim
Abendessen. Der Tisch war für zwei gedeckt. Ich setzte mich zu ihm und begann meine Suppe zu löffeln. Sie war dick, heiß und würzig. Auf der Oberfläche schwammen winzige
Kräuterschnipsel wie grüne Inseln in einem dampfenden Meer. Vater stand auf und holte zwei Biere aus dem Kühlschrank. Er knackte sie ein wenig umständlich auf und stellte sie
auf den Tisch.
Es war das erste Mal. Und es veränderte alles. Plötzlich waren da zwei Männer. Saßen sich gegenüber. Tranken Bier. Schluckten mit hüpfenden Kehlköpfen.
Stellten die eiskalten Flaschen mit einem harten Geräusch auf den Tisch zurück. Beugten sich wieder über die dampfenden Teller. Vater und Sohn.
Mein Herz klopfte wie wild. Der Stolz und eine seltsame Scham wühlten gleichzeitig in mir herum. Ich tippte die letzten Kräuterinselchen mit den Fingerspitzen auf und schob sie mir in
den Mund. Vater legte seinen Löffel weg. Räusperte sich ausgiebig. Trank. Räusperte sich noch einmal.
»Du bist jetzt fast erwachsen …«, fing er an.
Ich nickte ernst und nahm einen tiefen Zug aus der Flasche.
»Bist eben kein kleines Kind mehr …«
Ich sah, wie seine Finger nervös am Flaschenetikett zupften. Die kleinen, feuchten Streifen knetete er zusammen und schnipste sie hinter sich auf den Küchenboden.
»Bist kein Kind mehr … und das heißt … du bist eben jetzt groß … oder zumindest schon größer …«
Er stockte. Ich spannte unwillkürlich die Nackenmuskeln an.
»Du weißt, wie sehr ich meinen Beruf liebe«, sagte er leise. »Ich bin Friseur. Und ich will nichts anderes sein. Ich werde als Friseur aus den Latschen kippen. Auf meinem
Grabstein wünsche ich mir eine goldene Schere …«
Sein Blick senkte sich. Die kleine Ader an seiner Schläfe pochte.
»War nicht immer einfach …«, sagte er stockend, »seitdem deine Mutter …«
Er brach ab. Stille. Schlucken. Räuspern. Seine Finger an der Flasche. Die kleinen Papierfetzen unter seinen Nägeln. Die Kügelchen, die auf den Boden fielen und unter den
Küchenschrank kullerten. Plötzlich gab er sich einen Ruck, lehnte sich zurück, verschränkte die Arme vor der Brust und sah mir direkt in die Augen.
»Lass uns die Dinge beim Namen nennen!«, sagte er forsch. »Du bist kein Friseur. Du wirst nie einer werden. Niemals!«
Ich sah ihn überrascht an. Damit hatte ich nicht gerechnet. Es lag weder Ärger noch Bitterkeit oder Enttäuschung in seinem Tonfall. Er schien klar und ruhig.
»Der Salon gibt sowieso nicht mehr viel her. Jedenfalls nicht genug für zwei. Die Frage ist nur …« Er machte eine kleine Pause, holte tief Luft, legte seine
Hände auf den Tisch und beugte sich wieder nach vorne. »Die Frage ist: Was zum Teufel willst du machen?«
Ich spürte, wie mir das Blut ins Gesicht schoss. Die Stirn wurde heiß, die Ohren brannten. Das alles kam überraschend und schnell. Sehr schnell. Aber vielleicht war dies der
entscheidende Wendepunkt. Die letzte Abfahrt auf der öden Autobahn meines Lebens. Ich durfte sie nur nicht verpassen. Ich versuchte, dem Blick meines Vaters standzuhalten.
»Ich will Schauspieler werden!«, sagte ich.
Eine Weile geschah nichts. Man konnte die Anspannung im Raum spüren. Ein unsichtbares, fragiles Netz, das jedes einzelne Atom in der Küche mit allen anderen Atomen verband. Eine
falsche Bewegung und die Luft würde platzen und in winzigen Staubsplittern zu Boden rieseln.
Ich hörte, wie Vater durch die Nase ausatmete, ein lang gezogenes, leises Schnauben. Gleichzeitig fing er an langsam in sich zusammenzusacken. Gelenk für Gelenk. Wirbel für
Wirbel. Muskel für Muskel. Jede Faser meines Vaters schien sich einzeln zu lösen und Richtung Boden zu sinken. Bis er wie ein nasser Sack im Stuhl hing.
»Scheiße«, murmelte er kraftlos.
»Ja«, sagte ich, »aber so ist es nun mal!«
Vater hatte mit dem Theater noch nie etwas anfangen können. Genauso wenig wie mit Oper, Tanz, Malerei oder anderen kulturellen Angelegenheiten. Er las Friseurzeitschriften oder
Pflanzenlehrbücher, guckte sich hie und da einen Liebesfilm oder eine Volksmusiksendung an und ließ im Salon manchen Stammkunden zuliebe die Schlagerhitparade laufen. Und jetzt
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