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Jetzt wirds ernst

Jetzt wirds ernst

Titel: Jetzt wirds ernst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Seethaler
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reisen kann!«, meinte Janos.
    Das Sprechtraining schien mir etwas konkreter angelegt zu sein. Hier ging es um Artikulation und Intonation, um Vokale und Konsonanten, um kurz-offene und kurz-geschlossene, lang-offene und
lang-geschlossene beziehungsweise um wechselnde Selbstlaute (A, E, I, O, U) sowie um Lippenlaute ( P, B, M), Lippen-Zahnlaute ( F, W, PF), Zungen-Zahnlaute (T, D, L, N), Zischlaute (S, Z, X, SCH,
ST, SP) und Gaumenlaute (K, G, NG, NK). Das klang seriös und erinnerte mich ein wenig an den Unterrichtsstoff der Hermann-Conradi-Gesamtschule.
    Wir begannen mit dem A.
    »Stell dir vor, du bist eine Rohr«, sagte Janos. »Oder besser noch: ein hohler Baum! Zieh den Klang und die Kraft aus der Erde, und lass dich durchströmen!«
    Ich bemühte mich.
    »Und jetzt lies das!«, sagte er und schob mir ein vergilbtes, offensichtlich von ihm selbst beschriebenes Heftchen hin. »Lass dir Zeit, und vergiss zwischen den Sätzen das
Atmen nicht!«
    Ich nahm das Heftchen und las: »Das Barthaar des mageren Knaben lag nach dem Kahlschlag auf der Fahrbahn.«
    Ich blickte ein wenig irritiert hoch, aber Janos befahl mir mit einem Nicken weiterzumachen.
    »Tante Anna war acht lange Tage krank, dann starb sie am Schlaganfall.«
    Atmen.
    »Der pralle Narr nahm dramatisch Rache.«
    Atmen.
    »Abermals hatten Agnes und Amalia Angst vor dem Hasen gehabt.«
    Atmen.
    In den nächsten Wochen nahmen wir uns an jedem Unterrichtstag einen neuen Buchstaben oder eine neue Buchstabenkombinationen vor:
    »Der muntere Bursche bewunderte die kugelrunden Muskeln des dummen Russen.«
    »Sicherlich ließen die sieben wilden Biber die dicklichen Kinder kichern.«
    »Feuchte Säuglinge heulen heute im Gemäuer der scheuen Bräute.«
    »Die nörglerischen Nonnen nannten Nina nach und nach nur noch Nichtsnutz.«
    »Sicher, der säumige Sepp sagte seltsame Sachen über seine sensible Susi.«
    Und so weiter.
    Ich übte auch zu Hause. Abends saß ich in meinem Zimmer, ließ meinen Oberkörper über die Knie hängen und gurgelte frei atmend vor mich hin. Oder
ich ging im Kreis, versuchte die Kraft des Klanges aus dem Linoleum zu ziehen und meine Stimme darauf reiten zu lassen: Pah! Poh! Poah! Pouh!
    Um einer von Janos’ Hausaufgaben nachzukommen, hatte ich mir vom Heiligen Ernst einen Sack alter Weinkorken besorgt. Ich steckte mir jeweils einen Korken in den Mund und sagte der Reihe
nach alle Monologe auf, die ich mittlerweile auswendig konnte. Die Schwierigkeit bestand darin, den Brechreiz, den der Geschmack von billig zusammengepanschtem Rotwein auslöste, zu
unterdrücken, den Korken fest zwischen den Zähnen zu behalten und trotzdem einigermaßen verständlich zu artikulieren.
    »Müdbürga! Cheunde! Chömer! Höad müch an!«
    Ich übte jede freie Minute. Morgens gleich nach dem Aufwachen, mittags, abends, an meinen freien Tagen. Noch im Bett sagte ich mit verklebter Zunge ein paar Zeilen auf. Auf dem Weg zum
Theater machte ich hin und wieder einen kurzen Ausfallschritt und vollführte ein paar Finten gegen einen unsichtbaren Gegner. Während des Essens horchte ich bis ins tiefste Blubbern
meines Magens hinunter und sogar auf der Toilette hatte ich immer einen Korken dabei, um in der angenehmen Akustik der gekachelten Enge vor mich hin zu sprechen.
    Und langsam wurde ich besser. Der quäkende Unterton verlor immer mehr an Schärfe, bis er nur noch als leicht metallene Färbung unter meiner Stimme mitschwang. Ich vernuschelte das
L nicht mehr, ich kaute nicht mehr auf dem G, und sogar das leichte Lispeln und Hölzeln beim S und beim SCH kriegte ich einigermaßen unter Kontrolle. Der wichtigste Fortschritt aber war,
dass ich beim Sprechen nun auch zu denken angefangen hatte. Die Sätze wurden nicht mehr einfach so in den Raum hineingeplärrt, sondern fingen an, ihren eigentlichen Inhalt zu
transportieren, egal, an wen sie gerichtet waren.
    Janos saß in der ersten Reihe, hörte mir aufmerksam zu, wippte mit den Füßen und nickte.
    »Mach weiter!«, sagt er.
    Und das war das größte Lob, das man von ihm erwarten konnte.

VERHEISSUNG UND VERDERBEN
    Große Dinge waren im Gange. Ungeheuerliches und Sensationelles lag in der von allgemeiner Erregung flirrenden Luft: Das Fernsehen hatte sich angesagt.
    In unserer Stadt sollte ein Film gedreht werden. Und zwar nicht irgendein x-beliebiger Film. Kein zum Gähnen langweiliger Dokumentarstreifen über irgendwelche vom Aussterben bedrohten
Nutztierarten, und schon gar kein verblasener

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