Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Jetzt wirds ernst

Jetzt wirds ernst

Titel: Jetzt wirds ernst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Seethaler
Vom Netzwerk:
Linien. Das alles war ja nichts Besonderes, so ging das seit Jahren, und das war auch in Ordnung. Vor drei Tagen jedoch,
so die bulgarische Reinigungsfrau, die im Nachbarhaus gegenüber die Fenster putzte, war etwas Fürchterliches geschehen. Martha hielt mitten in ihrer unsichtbaren Malerei inne,
öffnete das Fenster und stieg aufs Fensterbrett. Ihr kleiner Körper passte genau in den hohen Rahmen. Sie legte den Kopf in den Nacken, schloss die Augen und lächelte in den Himmel.
Der Vorhang und ihre Haare flatterten gemeinsam im Wind. Ein paar verirrte Sonnenflecken huschten über ihren weißen Hals. Schön habe das ausgesehen, meinte zumindest die bulgarische
Reinigungsfrau, sehr schön und fast auch ein bisschen lustig, dieses flatternde Durcheinander dort drüben im Fensterrahmen. Doch plötzlich öffnete Martha wieder ihre Augen,
breitete die Arme aus und ließ sich nach vorne fallen. Für einen kurzen Moment habe es ausgesehen, als ob diese bunt flatternde Frau abheben, ihrem eigenen Blick hinterherfliegen und
vielleicht irgendwo ganz weit hinter den in der Nachmittagssonne silbrig schimmernden Dächern verschwinden könnte. Aber es war eben wirklich nur ein kurzer Moment. In Wirklichkeit
stürzte Martha wie ein Stein vom Fensterbrett und landete kopfüber auf dem Kiesweg. Ihre roten Haare lagen wie ein fein verwirrtes Fischernetz über ihrem weißen Gesicht. Sie
sah entspannt aus. Ihre Augen waren immer noch weit geöffnet. Nacheinander spiegelten sich darin die bulgarische Reinigungsfrau, Max und der eilig herbeigerufene Notarzt. Bis sich
schließlich eine Hand auf ihr Gesicht legte und ihr die Lider schloss.
    Max’ Oberkörper bäumte sich unter der Decke auf, sein Kopf zuckte auf der Matratze hin und her, seine Fäuste krampften sich zusammen. Ich überlegte kurz, dann kroch ich
zu ihm unter die Decke, umklammerte von hinten seinen Oberkörper und schlang zusätzlich meine Beine um ihn. Er versuchte mich gemeinsam mit seinem Schmerz abzuschütteln, schlug und
trat nach mir, warf den Kopf in den Nacken und erwischte mich mit Wucht an der Nase. Ich konnte es leise knacksen hören, in meinem Hirn zuckte ein kleiner, blendend weißer Blitz vorbei,
ganz deutlich spürte ich den süßlichen Geschmack von Blut im Rachenraum. Aber ich ließ nicht los. Wie ein Affe hing ich an Max, die Finger vor seiner Brust verhakt, die Beine
vor seinem Becken verschränkt.
    Eine ganze Weile wälzten wir uns im feuchten Bett. Dann, ganz plötzlich, verlor sein Körper die Spannung, er wurde ruhig und lag weich und schlaff in meinen Armen. Ich zog seinen
Kopf an mich, spürte seinen heißen Atem an meiner Brust und hörte ihn ganz leise weinen.
    Draußen dämmerte es allmählich. Der Regen prasselte immer noch schubweise gegen die Fensterscheiben. Eine riesige Taube setzte sich aufs Fensterbrett und verdunkelte das ganze
Zimmer. Sie sah freundlich aus, allerdings auch ein wenig blöde. Sie legte den Kopf schief, nickte mir zu, wölbte ihre Nackenfedern, schlug ein-, zweimal mit ihren gewaltigen Flügeln
und hob mit einem tiefen Rauschen ab.
    Als ich aufwachte, war Max verschwunden. Draußen war es stockdunkel, es hatte zu regnen aufgehört. Aus einem der Hoffenster gegenüber drang das krächzende Husten einer alten
Frau heraus. Das Bett war immer noch feucht und warm, in den Mauern rauschte es leise. Ich stand auf, ging ins Bad und schaute in den Spiegel. Ich sah besser aus, als ich vermutet hatte. Meine Nase
war blutverschmiert und ein wenig geschwollen, im Großen und Ganzen schien sie jedoch heil geblieben zu sein. Ich ließ das Waschbecken vollaufen, tauchte das Gesicht ein, prustete ein
bisschen herum, tauchte wieder auf und rubbelte mich trocken. Herrn Mohapps billige Wanduhr mit den Zeigern in Form von schweinchenfarbenen Frauenbeinen zeigte zehn nach vier. Ich zog ein
Büchlein aus einem der Türme und verkroch mich wieder ins Bett. Es war Schillers Wallenstein . Ich hatte ja Zeit.

FECHTEN, TANZEN, ATMEN, SPRECHEN
    In den nächsten eineinhalb Jahren wurde der Unterricht immer anstrengender. Doch ich machte Fortschritte. Ich lernte, in mich hineinzuhorchen und meinen Körper zu
spüren. Mein Gang verlor die brettartige Steifheit und wurde elastischer. Die Arme hingen nicht mehr wie Fahrradschläuche von den Schultern, die Beine staksten nicht mehr unkontrolliert
in der Gegend herum und ich wusste fast in jedem Augenblick, in welchem Teil der Bühne ich mich gerade befand.
    Einmal die Woche stand

Weitere Kostenlose Bücher