Jetzt wirds ernst
Fechten auf dem Stundenplan.
»Gut für Shakespeare und für Aggression!«, erklärte Irina und fing an, um mich herumzuhüpfen und mir so lange einen Holzstecken um die Ohren zu hauen, bis ich
irgendwann lernte, auszuweichen, zu parieren, eine Art Finte anzubringen und manchmal sogar meinerseits einen ungeschickten Treffer zu landen.
Zweimal die Woche wurde getanzt. Ich musste mir hautenge Leggins, ein lächerliches Turnleibchen und ein Paar mädchenhafte Gymnastikschuhe zulegen, dann ging es los. Am Anfang gab Irina
verschiedene Bewegungen, Schritte und Figuren vor, und ich tapste hinterher. Später setzte sie sich im Schneidersitz an die Bühnenrampe und ließ mich alleine machen. Die Aufgabe
war, Stimmungen, Gefühle, Gedanken und was sonst noch alles in mir steckte, tänzerisch ausdrücken. Ich fing mit einer rhythmischen Pendelbewegung des Oberkörpers an. Danach
wirbelte ich mit den Armen windmühlenartig durch die Luft, warf den Kopf exstatisch hin und her und schlenkerte ausgelassen mit den Beinen.
Irina saß da und starrte mich mit versteinertem Gesicht an. Was ich damit ausdrücken will?
»Weiß nicht«, antwortete ich wahrheitsgemäß.
Irina seufzte und machte einen Vorschlag: Sie werde mir einzelne Befindlichkeiten oder Gefühlszustände vorgeben und ich solle sie mit einem eindeutigen Bewegungsablauf darstellen.
»Freude!«, sagte Irina.
»Wie bitte?«
»Du sollst Freude ausdrücken!«
Ich überlegte kurz. Daraufhin fing ich an begeistert zu grinsen, riss die Arme in die Höhe und machte einen gewaltigen Ausfallschritt zur Seite. Eine Weile blieb ich erwartungsvoll in
dieser ungemütlichen Haltung. Die Oberschenkel brannten, zwischen meinen Beinen knarrten leise die Hosennähte.
»Trauer!«, rief Irina mir zu.
Ich ließ Arme und Mundwinkel fallen, kippte nach vorne, robbte an den Bühnenrand und ließ den Oberkörper wie einen nassen Fetzen über die Rampe baumeln.
»Wut!«
Ich sprang auf, rannte mit voller Wucht gegen die Hinterwand und blieb daran kleben wie eine Fliege an der Windschutzscheibe.
»Angst!«
Ich rutschte an der Wand hinunter und krümmte mich auf dem Boden haltlos schlotternd in Embryostellung zusammen. Obwohl ich die Angst förmlich zu spüren glaubte und mir die ganze
Sache obendrein doch ein bisschen peinlich war, fühlte ich mich nicht unwohl. Ich war auf einem guten Weg, dachte ich. Es würde ein steiniger Weg werden, einer mit Dornen,
Stacheldrahtzäunen und Jauchegruben. Aber ich hatte die ersten Schritte gemacht und nichts würde mich aufhalten. Noch lag ich in hautengen Strumpfhosen schlotternd in der hintersten Ecke
eines Kellerlochs. Irgendwann würde dieser Weg zu Ende gegangen sein, und ich würde als fertiger Schauspieler das warme Licht der Bühne betreten.
Nach einer ziemlich langen Weile löste ich die Embryostellung wieder auf, kam hoch und blickte mich um. Irina war weg. Der Tanzunterricht war für heute beendet.
Mit Janos arbeitete ich weiterhin an Monologen und Szenen. Dazu kamen nun auch noch Stimmtraining und Sprechübungen. Bislang hatte ich keinen Grund gehabt, mit meiner
Stimme unzufrieden zu sein, beziehungsweise war sie mir nie sonderlich aufgefallen. Meine Stimme gehörte einfach zu mir wie alle anderen Körperfunktionen auch. Erst Janos hatte mich auf
einen gewissen quäkenden Unterton aufmerksam gemacht, der angeblich jede meiner Äußerungen begleitete.
»Du hast kein Volumen, keine Kraft und schon gar keinen Ausdruck! Du verschluckst das T, du verlispelst das S und du vernuschelst das N, das G, das K und das L! Insgesamt hörst du
dich an wie ein lungenkranker Esel!«
Wir begannen mit Atemübungen. Ich musste mich auf einen Stuhl setzen, den Oberkörper nach vorne über die Knie baumeln lassen und seltsam gurgelnde Töne von mir geben:
Aaaoooaaaah … Ooouuuaaah … Eeeiiinjaaah …
»Die Stimme ist der Atem, und der Atem ist das Leben!«, erklärte Janos.
Danach sollte ich im Kreis auf der Bühne herummarschieren und bei jedem Schritt kräftige Laute ausstoßen: Pah! Poh! Poah! Pouh!
»In der Erde liegt die Kraft, und jeder Schritt öffnet eine Quelle!«, sagte Janos.
Oder ich stand einfach nur mit geschlossenen Augen da und versuchte, meinen Atem möglichst frei fließen zu lassen, ohne dabei mit meiner Aufmerksamkeit abzudriften. Manchmal sah ich
kleine violette und gelbe Flecken in meinem Gesichtsfeld vorbeiwabern, gefolgt von winzigen schwirrenden Leuchtpünktchen.
»Der Atem ist der Fluss, auf dem die Seele
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