Jetzt wirds ernst
lebensecht.
Nach stundenlangem Hin und Her, Gerede, Geschraube und Gerenne, hob der Regisseur plötzlich die Hand, die Zuschauer hielten den Atem an, und fast gleichzeitig mit dem unspektakulären
Wort »Bitte!« fiel die erste Klappe.
Die Handlung war ungefähr folgende: Die unscheinbare, aber doch hübsche Claire verlebt ihre einsamen Tage als Angestellte einer kleinen Tierhandlung in einem unsäglichen Kaff
(unsere Stadt). Die Tiere lieben sie, und sie liebt die Tiere. Da kommt ein junger Tierarzt nach langem Afrika-Aufenthalt heim. Die beiden lernen sich kennen, es gibt dramatische Verwicklungen,
eine rachsüchtige Konkurrentin, freigelassene Tiere, einen dubiosen Pharmareferenten, große Enttäuschungen, tiefe Verletzungen, die Preisgabe eines intimen Geheimnisses, zwei
schwere Faustkämpfe und eine berührende Aussprache mit nassen Haaren im schönen Licht unter freiem Himmel. Zum Schluss verlassen die Tierhändlerin und der Tierarzt mitsamt einem
Haufen geretteter Tiere die Stadt, um ihr Glück anderswo zu suchen.
Soweit die Handlung. Doch um die ging es eigentlich gar nicht. Das Fernsehen würde notfalls auch ohne Handlungen oder Inhalte auskommen. Das Fernsehen genügte sich selbst. Es strahlte
von innen heraus, praktisch nur kraft seiner eigenen Existenz. Und an manchen Abenden, wenn sich nach spätem Drehschluss der Regisseur mühselig aus seinem Stuhl heraushievte und in
Richtung Hotel watschelte, wenn sich die Szene nach und nach zu leeren begann und über allem der letzte Scheinwerfer abglühte, schien es fast, als ob sich etwas von der Strahlkraft des
Fernsehens auf unsere Stadt legen und ihr einen zwar etwas matten, doch bleibenden Glanz verleihen könnte.
Mich ging die Sache nichts an. Ich war im Theater oder in meiner kleinen Wohnung und hatte mit dem ganzen Getue und Geschrei nichts zu tun. Nur manchmal schlich ich in größerer
Entfernung um den Drehort herum und versuchte ein paar unauffällige Blicke auf das Geschehen zu werfen. Aber jedes Mal ging ich schnell wieder weiter. Alles zu seiner Zeit, dachte ich bitter
und steckte mir einen Korken in den Mund.
Und diese Zeit kam schneller als ich gedacht hatte. Ein paar Wochen waren schon seit dem Auftauchen des glitzernden Konvois am Horizont vergangen. Genauso lange hatte das
Filmteam unsere Stadt in Atem und bei Laune gehalten. Von Orgien war die Rede, von ausufernden Saufgelagen, erotischen Übergriffen und nächtlich rhythmisch wackelnden Wohnmobilen. Man
tuschelte über die hysterischen Anfälle der Schauspielerinnen, über die noch hysterischeren Anfälle der Schauspieler, über vulkanartige Wutausbrüche des Kameramannes,
herzzerreißende Weinkrämpfe des Oberbeleuchters und exstatische Aufwallungen des Produzenten. Den Leuten schwirrten die faszinierten Köpfe. Man fühlte sich moralisch
abgestoßen und gleichzeitig fast körperlich angezogen. In den Schlafzimmern der Stadt brannte es unter den gesteppten Bettdecken. Und die Gottesdienste waren besser besucht als zu
Weihnachten und Ostern zusammen. Das Fernsehen schien alles in sich zu vereinen, Verheißung und Verderben, Himmel und Hölle.
Unsere Vorstellung an diesem Abend war ganz gut gelaufen, sieben zahlende Zuschauer, drei Vorhänge, freundlicher Applaus. Janos und Irina hatten sich bald verabschiedet und mir den
Schlussdienst überlassen. Ich fegte die Bühne, sammelte die Requisiten zusammen, kümmerte mich um die Musikanlage, tauschte da und dort ein kaputtes Lämpchen aus, bürstete
den Bühnenstaub aus den Kostümen, schraubte die Schminktiegelchen zu und putzte die Gläser und Tassen über der kleinen Spüle hinterm Ausschank. Danach setzte ich mich an
eines der Tischchen und hörte dem Theater zu.
Man konnte die Räume atmen hören, das Knistern und Knarzen im Holz, das leise Ächzen des Metalls, das Gluckern in den Mauern. Ein großer, dunkler Körper, der sich zu
recken und zu strecken beginnt, sich am Ende des Tages ganz langsam entspannt, Ziegel für Ziegel, Brett für Brett, Faser für Faser.
Plötzlich ging die Tür auf, und hintereinander kamen drei mittlerweile stadtbekannte Gestalten die schmale Treppe heruntermarschiert: der Produzent, der Regisseur und der kleine
Regieassistent.
»Ist er das?«, wollte der Produzent wissen.
Der Regieassistent nickte. Der Regisseur stand einfach nur regungslos da und sah ziemlich fertig aus.
»Und was kann ich für euch drei Arschlöcher tun?«, fragte ich ruhig.
Eine Weile war es still im Foyer. Die
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