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Jetzt wirds ernst

Jetzt wirds ernst

Titel: Jetzt wirds ernst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Seethaler
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als zehn) konnten erleben, wie sich aus dem scheinbar beliebigen Durcheinander
ein tieferer Sinn herausbildete. Da saßen sie verstreut im Zuschauerraum und schauten mit feuchten Augen und offenen Mündern zu Sigmund Freud hoch, wie vor ein paar Stunden noch die
Vorschulknirpse zu Frau Maus.
    Und auch ich sah zu. Im dunkelsten Winkel der Seitengasse hockte ich jeden Abend auf einem umgedrehten Plastikkübel, sah diesen merkwürdigen alten Kindern beim Spielen zu und sehnte
mich mit jeder einzelnen Faser meines Daseins danach, eines Tages selbst im hellen, warmen Scheinwerferlicht zu stehen.

EIN KURZER FLUG
    Ein paar Monate später lag ich an einem Sonntagnachmittag im Bett und starrte abwechselnd an die Decke hoch oder zum Fenster hinaus. Draußen schüttete es in
Strömen. Das Wasser prasselte gegen die Scheiben und spülte die zentimeterdicke Taubendreckschicht vom Fensterbrett.
    Fast hätte ich das schwache Klopfen an meiner Tür überhört. Ich hatte noch nie Besuch bekommen. Manchmal kam Herr Mohapp vorbei, das zählte nicht. Meistens öffnete
er ohne anzuklopfen die Tür, sah sich misstrauisch im Zimmer um und fing an über allgemeine Preissteigerungen zu jammern, die von irgendwelchen Politikern zu verantworten seien. Von
Politikern, so meinte er, denen er am liebsten ihre Schädel mit einem Vierkanteisen einschlagen und deren Inhalt an die Hoftauben verfüttern würde, wenn es nicht sogar diesen
Drecksviechern grausen würde vor einem derartigen Fraß, und wenn es denn in so einem aufgeblasenen Politikerkopf überhaupt einen Inhalt gebe, aber es gebe ja eben keinen Inhalt,
meinte Herr Mohapp weiter, gar keinen, nicht den geringsten, null, Vakuum, Leere, nichts!
    Nachdem er derart den ersten Dampf abgelassen hatte, lief er dann noch eine ganze Weile mit flackerndem Blick und bebenden Nasenflügeln im Zimmer auf und ab. Irgendwann beruhigte er sich
wieder, stand ein wenig verloren herum und versuchte sich an den eigentlichen Zweck seines Besuches zu erinnern, was ihm nie gelang. Er verabschiedete sich jedes Mal mit einem freundlichen
Händedruck und ging.
    Wieder klopfte es. Ein leises, fast schüchternes Pochen. Ich wollte meine Ruhe, also hielt ich den Atem an und rührte mich nicht. Plötzlich hörte ich ein seltsames
Geräusch, ein tiefes Gurgeln oder Aufschluchzen. Danach einen dumpfen Bums gegen die Tür, ein Schleifen, wie wenn ein schwerer Körper langsam zu Boden rutscht, dann Stille. Ich stieg
aus dem Bett, zog einen schweren Theateralmanach aus einem der Büchertürme, um ihn notfalls als Waffe gebrauchen zu können, schlich zur Tür und öffnete sie vorsichtig.
    Auf der Schwelle lag Max. Zusammengekrümmt wie ein Embryo lag er da und weinte. Seine Schultern bebten, der Rotz lief ihm aus der Nase, die Haare hingen ihm in nassen Strähnen ins
Gesicht. Seine Kleidung war völlig durchnässt. Offenbar war er ziemlich lange durch den Regen gelaufen. Oder hatte in einer Pfütze gelegen. Ich ließ den Almanach fallen, fasste
Max unter den Schultern und schleppte ihn ins Zimmer. Er heulte ununterbrochen und bibberte am ganzen Körper. Ich zog ihm die nassen Klamotten aus, die an seinem Körper klebten. Er stank
nach Alkohol und Straßendreck, seine Augen waren rot und geschwollen. Ich schleppte ihn ins Bad und stellte ihn unter die Dusche. Zwanzig Minuten stand er regungslos darunter und ließ
sich das heiße Wasser ins Gesicht prasseln. Dann kam er heraus, schüttelte sich wie ein Hund, kroch, ohne sich abzutrocknen, in mein Bett, zog sich die Decke bis knapp unter die Ohren
und begann mit stockenden Worten zu erzählen.
    Der Zustand seiner Mutter hatte sich in den letzten Wochen merklich verändert. Ihr ganzes Gehabe war noch seltsamer und geisterhafter geworden. Dabei schien es ihr nicht schlecht zu gehen.
Nächtelang lief sie barfuß und mit einem immer ätherischeren Lächeln im Gesicht durchs Haus. Bei Morgengrauen saß sie auf dem Küchenboden und spielte mit ihren
langen roten Haaren. Manchmal erkannte sie Max, nahm ihn kurz in den Arm oder boxte ihn auf merkwürdig burschikose Art auf die Schulter. Meistens allerdings ging sie mit einem freundlichen,
aber doch höflich distanzierten Nicken einfach an ihm vorbei.
    Die Nachmittage verbrachte sie nach wie vor an ihrem Fenster im ersten Stock. Ihr Blick war in die Ferne gerichtet, eine Hand spielte mit ihren Haaren, während die Finger der anderen Hand
nach wie vor kleine Figuren und Formen in die Luft zeichneten, zart getanzte

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