Jetzt wirds ernst
blickte mich herausfordernd an. Sofort wurde mir brennend heiß. In meinen Ohren rauschte es
leise. Natürlich hatte ich kein Feuer. In meinen fantasierten Szenarien von Balz und Eroberung hatten Alltagsgegenstände wie Feuerzeuge bislang nie einen Rolle gespielt. Das war ein
Fehler.
»Warte mal …«, stammelte ich und fing an, sinnlos in meinen Hosentaschen zu graben. Die Brünette sah mich unverwandt an und ließ langsam ihre Zigarette in den
anderen Mundwinkel hinüberwandern. Ich konnte sehen, wie der kleine Leberfleck für einen Moment von der sanften Wellenbewegung ihrer Oberlippe hochgehoben wurde. Es war zum
Wahnsinnigwerden. Hektisch kramte ich weiter in meinen Taschen und bemühte mich, meine Verlegenheit mit einem verkrampften Lächeln zu kaschieren.
Doch plötzlich die rettende Idee: »Bin gleich wieder da!«, rief ich, drehte mich um, riss die Tür zum Herrenschuhladen auf und stürmte hinein.
Der Raum war eng und niedrig, in den Regalen stapelten sich Schuhe, ohne Ausnahme unsagbar hässliche Treter für den reifen Herrn. Ein muffig-säuerlicher Geruch nach Leder,
Sockenschweiß und Altersheim lag in der Luft. Auf einem Höckerchen mitten im Raum saß ein glatzköpfiger Zwerg. Er trug eine braune Wollweste und wühlte mit beiden
Händen in einer Probiersockenkiste.
»Haben Sie Feuer?«, schrie ich.
Der Zwerg zuckte zusammen, hob seinen Kopf und starrte aus einem tief verrunzelten Gesicht ängstlich zu mir hoch.
»Wie bitte?«, fragte er mit einem leichten Zittern in der Stimme.
»Ein Feuerzeug!«, brüllte ich und fuchtelte wild mit den Armen. »Oder Streichhölzer! Schnell!«
Der Zwerg brauchte ein paar Sekunden, um zu kapieren. Langsam zog er seine Hände aus dem Sockenhaufen und fing an sich mit einem Wollwestenärmel nachdenklich die Glatze zu
polieren.
»Ich glaube, ich hatte mal eins. Ist lange her. Sehr lange …«, sagte er und ließ seinen Blick eine Weile über die Schuhregale schweifen. Daraufhin tauchte er
seine Hände wieder in die Sockenkiste und beachtete mich nicht weiter.
Hier war nichts zu holen. Aber ich brauchte Feuer. Ich musste sofort und unter allen Umständen ein Feuerzeug auftreiben, koste es, was es wolle. Panisch rannte ich aus dem Laden. Es gab
noch andere Möglichkeiten, andere Geschäfte, Cafés, Kneipen, Passanten oder …
Das Mädchen war weg.
Ich sah mich verzweifelt um. Nichts. Einfach verschwunden. Mein Blick fiel auf den Boden. Da, wo sie eben noch gestanden hatte, lag ein kleiner hellbrauner Leberfleck. Ich bückte mich,
tippte den Klecks vorsichtig mit dem Zeigefinger auf und steckte ihn in den Mund. Dann ging ich nach Hause.
Manchmal verbrachte ich die Sonntagabende in Lokalen. Da es beim Heiligen Ernst keine nüchternen Frauen unter fünfzig gab, war ich gezwungen, andere Gaststätten
aufzusuchen. Dort saß ich dann meistens an einem Tischchen in einer Ecke, umgeben von einer Aura aus Einsamkeit, und beobachtete verstohlen das fröhliche Gewoge um mich herum. Alle waren
immer gut drauf. Alle schienen alle zu kennen. Alle schienen überall dazuzugehören. Jeder klopfte jedem auf die Schultern. Man schüttelte sich die Hand, umarmte sich, fiel sich um
den Hals, kicherte, lachte, verteilte Küsschen, Komplimente und wirkungsvolle Augenaufschläge.
Hin und wieder waren Mädchen aus der Schule darunter. Manchmal erkannte mich eine von ihnen sogar und nickte kurz zu mir herüber. Aber ehe ich zurückwinken konnte, hatte sie sich
schon wieder weggedreht. Es war wie verhext. Ich saß am Rande des Paradieses wie eine Schmeißfliege auf dem Tellerrand und kriegte nichts ab.
Dabei war ich nicht hässlich. Keine Schönheit, aber immerhin. Ich hatte die Pubertät einigermaßen unbeschadet überstanden, lief auf geraden Beinen, hatte schlanke, fast
zarte Finger und kleine, eng anliegende Ohren, die manchmal im Sonnenlicht rosig leuchteten. Doch das interessierte niemanden.
Erst viel später begriff ich, dass es weder um innere Werte, noch um das Aussehen ging. Oft bekamen die dümmsten und hässlichsten Typen die besten Mädchen ab. Haarige Kerle
mit überlangen Armen und Eiterpickeln im Gesicht wurden beständig von einem Schwarm Verehrerinnen umschwirrt. Offensichtlich gab es unter Jugendlichen eine hierarchische Rangordnung wie
im Tierreich. Die Stärksten kriegten alles, die etwas Schwächeren kriegten das, was übrig blieb und die ganz Schwachen hockten am Rand und kauten an Knochen und Stroh herum. Es ging
um Kraft, Macht und Potenz.
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