Jetzt wirds ernst
Wer am lautesten brüllte, wer am wildesten auf seiner Brust herumtrommelte, wer sich möglichst ungeniert im eigenen Dreck wälzte, dem gehörte die
Welt.
Und die Mädchen konnten es riechen. Ihre gepuderten Nasen witterten sofort, wer von den Jungs imstande war, ein Rudel zu leiten, ein dickes Auto zu fahren, dauerhaft das Kino zu bezahlen
und irgendwann gegebenenfalls die Filiale eines mittelständischen Unternehmens zu leiten. Das waren die Kerle, die sie interessierten. Für jemanden wie mich blieb da nur ein mitleidiges
Nicken übrig. Wenn überhaupt.
Vielleicht hätte ich ja den Bann durchbrechen können. Brüllen. Trommeln. Furzen. Lauthals über Musik schwadronieren. Über Mopeds. Autos. Spitzenleistungen beim
Onanieren. Und dann ganz beiläufig ein Mädchen einladen. Zum Kaffee, auf ein Glas Wein oder ins Kino. Im Dunkeln wie zufällig die Hand an der Popcorntüte vorbeiwandern lassen.
Beim Küssen den Kaugummi geschickt hinter den Zähnen verstecken. Eine starke Schulter bieten. Witzig sein. Rülpsen können. Röhrend lachen. Discos von innen kennen. Den
Türsteher mit einem lässigen Nicken begrüßen. Beim Engtanzen beide Hände auf den Mädchenhintern legen. Immer einen Kamm, ein Präservativ und ein Feuerzeug in der
Tasche haben.
Aber die Wirklichkeit sah anders aus. Ich hockte in einer Ecke, nuckelte an einer Limonade oder kippte trotzig ein paar Biere in mich hinein und träumte vor mich hin. Ich sah meine eigenen
Fantasien an mir vorüberziehen wie all die einsamen Sonntagabende, eine nach der anderen. Und mit jeder mädchenlosen Woche sickerte die bittere Gewissheit immer tiefer in mein Herz
hinein: Ich würde ungevögelt sterben!
DREIPERSONENSTÜCKE MIT SCHEISSTITELN
Als ich eines frühen Nachmittags pünktlich zum Unterrichtsbeginn die Bühne betrat, waren Janos und Irina schon da. Sie saßen nebeneinander auf zwei
umgedrehten Bierkisten, Janos blätterte in seinem zerfledderten Regiebuch, Irina zog an einer Selbstgedrehten. Über ihrem Kopf verkräuselte sich der Zigarettenqualm und verschwand
im Halbdunkel zwischen den Scheinwerfern.
»Setz dich!«, sagte Janos ohne aufzuschauen. Ich holte mir meinen Blecheimer aus der Seitengasse und hockte mich zu den beiden. Eine Weile geschah nichts. Janos blätterte, Irina
rauchte. Die ganze Sache war mir nicht geheuer. Bislang hatte der Unterricht immer in getrennten Einzelstunden stattgefunden. Das hier war neu.
Plötzlich legte Janos sein Buch weg und sah mich an.
»Denkst du, du hast Fortschritte gemacht?«, fragte er.
»Weiß nicht«, sagte ich misstrauisch. »Das könnt ihr doch sicher besser beurteilen, oder?«
»Kann schon sein. Aber was zählt, ist deine eigene Einschätzung. Du musst über dich Bescheid wissen. Nicht die anderen!«
Ich dachte nach. Ohne Zweifel war ich besser geworden. Ich war nicht mehr so hüftsteif, hatte gelernt, mich einigermaßen verständlich auszudrücken, und konnte während
des Sprechens sogar meinen eigenen Gedankengängen folgen.
»Ja«, sagte ich, »ich habe Fortschritte gemacht!«
Irina ließ ein paar zittrige Rauchringe aufsteigen und beobachtete, wie sie in der staubflirrenden Luft auseinanderdrifteten und sich auflösten.
»Steh auf und mach einen kleinen Schritt!«, befahl Janos. »Einen sehr kleinen Schritt!«
Ich stand auf und setzte einen Fuß direkt vor den anderen.
»Gut. So weit bist du bis jetzt gegangen. Wie weit, glaubst du, hast du noch zu gehen?«
»Weiß nicht … bis dorthin vielleicht?«
Ich deutete auf einen Punkt ungefähr in der Bühnenmitte.
Janos hob langsam den Kopf und sah mir direkt in die Augen. Er sah müde aus. Abgespannt und übernächtigt. Doch mitten in seiner Pupille flackerte ein heller Fleck.
»Als Schauspieler darfst du nie aufhören weiterzugehen!«, sagte er. »Niemals! Unter keinen Umständen! Sobald du stehen bleibst, bist du tot! Hast du das
verstanden?«
Ich nickte.
Janos’ Gesichtszüge schienen sich etwas zu entspannen. Das kleine Flackern in seinen Augen wurde ruhiger. Mit einem Kopfnicken befahl er mir, mich wieder zu setzen. Das Blech
knirschte leise unter meinem Hintern.
»Nächsten Monat stehen zwei neue Stücke auf dem Programm: Das Wurmloch für die Kinder und Wittgensteins Höllenfahrt für die Erwachsenen. Was
hältst du von diesen Titeln?«
Da ich wusste, dass die Titel seiner Stücke meistens wenig über deren Inhalt aussagten, zuckte ich mit den Schultern.
»Sie sind scheiße!«, sagte Janos mit einem unglücklichen
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