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Jetzt wirds ernst

Jetzt wirds ernst

Titel: Jetzt wirds ernst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Seethaler
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die Sonne scheint, ein Lied wird gesungen.
    Die Proben liefen überraschend angenehm, ganz anders als die Unterrichtsstunden. Vormittags probten wir das Wurmloch, nachmittags machten wir uns an die Höllenfahrt . Wie
damals in der Schule lasen wir als Erstes das Stück. Aber schon nach jeweils ein paar Minuten pfefferte Janos seine Textfassung in eine Ecke, sprang auf und begann zu spielen. Sofort war Irina
dabei. Die beiden fingen an, auf der Bühne herumzutoben wie Knirpse im Sandkasten. Es war völlig verrückt und sinnlos, dennoch schien es Spaß zu machen. Ich saß ein wenig
verklemmt da und schaute zu. Die Scham klebte mir am Hintern und hielt mich am Stuhl fest. Es dauerte ziemlich lange, doch schließlich gab ich mir einen Ruck und riss mich los.
    »Scheiße!«, schrie ich und warf mich mitten hinein ins Getümmel. Es hatte mit meiner Vorstellung von Theater nicht das Geringste zu tun. Aber es war großartig. Ich
hatte ganz vergessen, wie wunderbar es sich im Sandkasten anfühlen kann. Ich wälzte mich mit diesen beiden alten Kindern durch den Modder der eigenen Fantasie, ohne Rückversicherung
und ohne Ziel. Wir brabbelten, sangen, lachten, schrien, brüllten, tanzten, bauten unsichtbare Türme, schmissen sie wieder um, lagen keuchend nebeneinander auf dem Rücken und
starrten Kopf an Kopf in diesen hellen, ewig weit gewölbten Himmel hinter den Scheinwerfern.

LAMPENFIEBER
    Beide Premieren fanden am selben Tag statt, an einem kühltrüben Samstag im Spätherbst. Tatsächlich und fast unmerklich hatten wir im Laufe der letzten
Wochen dem Breipott unserer Improvisationen nach und nach den Text beigemengt. Aus einzelnen Worten wurden Sätze, kurze Monologe, eingestreute Dialogschnipsel, und irgendwann begannen wir
wirklich miteinander zu sprechen. Die einzelnen Handlungsfäden fingen an, sich wie aus eigenem Antrieb miteinander zu verknüpften, und aus dem abgedrehten Chaos schienen sich die
Geschichten selbständig herauszubilden und auszuformen.
    Mit jedem Tag kam ein neuer Bühnenbildteil dazu, und eine Woche vor der Premiere waren auch die Kostüme fertig. Die Kleider der Philosophen waren keine große Sache: Jeder
wickelte sich in ein eingefärbtes Leintuch und schnürte es um den Bauch mit einem Strick zusammen, dazu gab es jeweils ein Paar alter Badelatschen und fertig.
    Die Kostüme für das Kinderstück waren aufwändiger. Janos musste sich als Holzwurm in eine Art Ganzkörperstrumpfhose zwängen, und für sich selbst hatte Irina
ein beeindruckendes Amselkostüm genäht, ein fluffiges Gewölk aus pechschwarzen Federn, mit Flügeln und Schwanz sowie einem großen, leuchtend gelben Pappschnabel. Das
pompöseste Kostüm bekam ich als Apfelbaum: Lange, mit echter Rinde beklebte Stoffbahnen, die den ganzen Körper bedeckten und so steif waren, dass sie kaum noch eine natürliche
Bewegung zuließen. An den Armen knorrige Äste aus Draht und Papier, an den Füßen weit ausgreifende Pappwurzeln und auf dem Kopf eine ständig raschelnde Laubkrone, aus der
ein paar rote Plastikäpfel hervorleuchteten.
    Um Punkt elf Uhr vormittags ging das Licht im Zuschauerraum aus, Musik ertönte, und der Wurm kroch aus seinem Loch. Janos war ganz bei der Sache. Die Wurmwohnung brannte ab, indem ich die
roten Scheinwerfer hochdimmte, die Nebelmaschine aktivierte und in einem Haufen alter Alufolie herumknisterte, die Kinder johlten und trampelten, die Amsel tauchte auf, versengte sich ein paar
Federn, rettete aber den Wurm vor den Flammen. Die beiden machten sich auf die Socken, erlebten allerhand Abenteuer und gelangten schließlich zum Apfelbaum. Mein Auftritt.
    »Guten Morgen Kinder!«, sagte ich, nachdem ich mich langsam, sehr langsam zur Bühnenmitte hinbewegt hatte. »Ich bin der Apfelbaum!«
    Es lief wie geschmiert. Besser noch als bei den Proben. In der Dunkelheit im Zuschauerraum leuchteten die kleinen Gesichter wie aufgereihte Lampions. Die Kinder lachten, heulten und klatschten
vor Aufregung, quietschten vor Vergnügen, trampelten vor Empörung und schissen sich die Hosen voll, wenn mit verzerrtem Halleffekt der Chor der gemeinen Holzfäller vom Band
ertönte.
    Schließlich war es vorbei. Die Holzfäller waren erledigt und alles war gut. Wir verbeugten uns, die Kinder klatschten, Janos zog den Vorhang zu, und Irina klopfte mir beim Abgehen auf
die rindenbeklebte Schulter. Ein kleiner Apfel löste sich aus meiner Krone, plumpste mir vor die Füße, kullerte über die Bretter und verschwand in einer

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