Jetzt wirds ernst
Seufzer. »Es sind absolute Scheißtitel!«
Ich sah, wie Irina ihre Zigarette an der Bierkiste ausdrückte und den Stummel in einer ihrer Taschen verschwinden ließ.
»Aber das Entscheidende ist: Die Stücke sind gut! Sie sind hervorragend! Vielleicht sind es die besten Stücke, die ich je geschrieben habe!«
Es folgte eine lange Pause, in der er selbstzufrieden seine Arme vor der Brust verschränkte, sie jedoch gleich darauf wieder löste und seine Hände auf die Knie legte. Große,
schwere, knorrige Hände.
»Und es sind Dreipersonenstücke!«
Irina kniff die Augen zusammen und gähnte unterdrückt. Es dauerte ein paar Augenblicke, bis ich kapierte. Schließlich sickerte es in mein Bewusstsein. Heiße Tropfen, die
von überall her zu kommen schienen. Wie ein warmer Regen in meinem Körper.
»Hier sind die Texte. Deine Rollen sind angestrichen. Die Proben beginnen morgen!«, sagte Janos und reichte mir ein paar Blätter. Dann stand er auf, machte ein übertrieben
schmerzverzerrtes Gesicht, stemmte die Arme in die Seiten, streckte das Kreuz durch, dass es nur so knackte, schlurfte von der Bühne und verschwand im Dunkel der Seitengasse. Gleich nach ihm
erhob sich auch Irina von ihrer Bierkiste und ging. Beim Vorübergehen strich sie mir mit dem Handrücken ganz leicht über die Wange.
Ich blieb noch eine Weile sitzen. Meine Ohren glühten. Zwischen meinen Fingern knisterten die Blätter. Im Bauch schwappte das warme Regenwasser. Am liebsten hätte ich laut
aufgejuchzt und wäre wie ein Irrer auf der Bühne hin und her gesprungen, aber in den hinteren Räumen hörte ich Janos und Irina rumoren. Also ließ ich mich möglichst
leise vom Eimer fallen und wälzte mich ein paar Minuten lang stumm jubelnd über die Bretter.
Die Stücke waren ziemlich abgedreht. Jede zweite Regieanweisung lautete: Improvisieren . Das ließ eine Menge Spielraum. Beim Wurmloch ging es um einen
schlecht gelaunten Holzwurm (Janos), dem eines Tages seine Wohnung abbrennt, worauf er sich unter dem Flügel einer Amsel (Irina) versteckt und von ihr in die weite Welt hinausgetragen wird.
Die beiden freunden sich an, erleben allerhand Abenteuer und gelangen schließlich an einen alleinstehenden Apfelbaum (ich), der von ein paar wahnsinnigen Holzfällern (Stimmen vom Band)
bedroht wird. Gemeinsam gelingt es den Dreien, die Holzfäller in die Flucht zu schlagen, alles geht gut aus, die Sonne scheint, ein Lied wird gepfiffen.
In Wittgensteins Höllenfahrt war die Handlung um einiges abstrakter. Wenn man überhaupt von einer Handlung sprechen konnte. Der Philosoph Ludwig Wittgenstein (Irina) sitzt auf
einem von ihm selbst geschaffenen Sprachgebilde, einem Berg aus Buchstaben und Wörtern, und sinniert über dieses und jenes. Da kommt der Philosoph Immanuel Kant (Janos) vorbeispaziert.
Die beiden streiten sich über einen verlorenen Imperativ, über die nüchterne Ästhetik sowie über ein paar andere wichtige Angelegenheiten, hauen sich verschiedene Theorien
um die Ohren, werden schließlich tatsächlich handgreiflich und wälzen sich fest ineinander verkeilt über die Erde. Dabei kullern sie in ein Loch und stürzen durch einen
dunklen Schlund direkt in die Hölle. Dort unten hockt schon seit Jahrhunderten der Philosoph Platon (ich) und zermartert sich sein Hirn über die Unsterblichkeit der Seele. Sofort wird er
in die Streitigkeiten einbezogen, wieder kommt es schnell zu Handgreiflichkeiten, mit ziemlichem Getöse erscheint der Teufel persönlich (Stimmen vom Band) und schlichtet die ganze Sache
vorerst. Die drei Philosophen sitzen nun also im Schein des Höllenfeuers und beschnuppern sich. Es wird monologisiert, dialogisiert und ziemlich viel geschimpft. Es geht um Metaphysik,
Tugendlehre, Eudaimonismus und darum, wie man am besten seinen Arsch aus dieser ungemütlichen Situation heraushieven könnte. Irgendwann wird Wittgenstein klar, dass die Hölle ja nur
ein Hirngespinst der Vernunftlosen ist, quasi nur eine Ausgeburt der menschlichen Vorstellungskraft und somit also irreal und überwindbar. Nach einigem Hin und Her nehmen Kant und Platon
schließlich diese These an. In einer grotesken Versuchsanordnung üben sich die drei in absoluter Gedankenlosigkeit, worauf noch einmal der Teufel persönlich (Stimmen vom Band)
erscheint, sich dann aber tatsächlich mitsamt seiner ganzen Hölle im gedankenfreien Nichts der Philosophenhirne auflöst. Wittgenstein, Kant und Platon purzeln zurück in die
helle Welt, alles geht gut aus,
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