JFK -Staatsstreich in Amerika
Verdächtigen auszuschließen – es sei denn, man spricht ihm die Gabe
der Bilokation zu, die ihn um 12:30 Uhr auf seinem Schützenstand im sechsten
Stock und zwei Minuten später im Pausenraum im zweiten Stock anwesend sein
lässt. Auch dass er die unvorhersehbare Verspätung des Autokorsos geahnt und
erst mal seelenruhig Mittagspause gemacht hat, um dann – »Verdammt, ich wollte
doch Kennedy erschießen!« – in den sechsten Stock zu hasten, drei Schüsse
abzugeben, zurückzurasen und wieder völlig entspannt im Pausenraum zu sitzen,
als der Polizist Baker ihn dort antrifft, ist schlicht nicht vorstellbar.
Doch schon wenige Minuten später
zieht sich die Schlinge um Oswalds Hals langsam zu. Um 12:45 Uhr, kaum eine
Viertelstunde nach den Schüssen, geht eine Beschreibung des Verdächtigen über
den Polizeifunk von Dallas: »Die gesuchte Person ist ein schlanker weißer Mann
um die 30 Jahre, 5 feet 10 (178 cm), 165 pounds (75 kg), mit einer Waffe, die
wie eine 30.30 oder Winchester aussieht.«
Eine merkwürdige Fahndungsdurchsage.
Sie kann nicht von einem Augenzeugen stammen, denn sie beschreibt zwar Größe
und Gewicht, nicht aber das, was jedem Beobachter als Erstes ins Auge fallen
muss: die Bekleidung des Mannes. Als noch um 13:08 Uhr über den Polizeifunk
gefragt wird, ob es Hinweise auf die Kleidung des Verdächtigen gebe, verneint
das der Dispatcher. Dabei könnte ein Augenzeuge, der einen aus einem nur halb
geöffneten Fenster im sechsten Stock lehnenden Schützen erspäht hätte,
bestenfalls die Farbe seines Hemds oder seiner Jacke beschreiben, eventuell
auch noch die Haarfarbe, nicht aber seine Größe und sein Gewicht. Und
tatsächlich: Die Beschreibung, die der Polizei in Dallas wenige Minuten nach
dem Mord per Funk durchgegeben wird, stammt nicht von einem leibhaftigen
Zeugen, sondern vielmehr aus einer Akte, genauer aus einer Personenakte, einem
sogenannten 201-File der CIA, die unter dem Namen Lee Henry Oswald geführt
wurde: »Oswald is five feet ten inches, one-hundred and sixtyfive pounds, light
brown wavy hair and blue eyes.« 15
Als die Warren-Kommission später nachfragt,
woher die Polizei diese frühe Beschreibung des vermeintlichen Täters hatte,
wird sie auf Howard Brennan verwiesen, der als einziger Zeuge von Hunderten auf
der Dealey Plaza anwesenden Zuschauern einen Mann mit einem Gewehr im sechsten
Stock des TSBD gesehen haben will. Brennan sagte aus, er habe diesen Mann am
linken Fensterrahmen lehnend von der Hüfte aufwärts gesehen. Doch das kann
schlicht nicht stimmen, denn das besagte (Schiebe-)Fenster endet 30 Zentimeter
über dem Boden und ist zum Zeitpunkt des Anschlags halb zugezogen. Auf Fotos,
die Gordon Arnold, ein weiterer Zuschauer, Sekunden vor den Schüssen macht,
sind das sechste Stockwerk des TSBD und das Fenster zu sehen – aber keine
Person und kein Gewehr, sondern im Hintergrund nur einige Kartons. Bei der
Gegenüberstellung im Polizeirevier von Dallas am späteren Nachmittag kann
Brennan Oswald denn auch nicht identifizieren, was die Kommission später
gleichwohl nicht daran hindert, ihn als »Schlüsselzeugen« für glaubwürdig zu
halten. Die Aussagen der oben zitierten anderen Zeugen, die ihren Kollegen
Oswald kurz vor und kurz nach der Tatzeit im Pausenraum des zweiten Stocks
angetroffen haben, werden – wenn überhaupt – nur im Kleingedruckten der
Zusatzbände erwähnt.
Um 13:18 Uhr geht eine ganz andere
Meldung ein. Ein Bürger berichtet über den Polizeifunk aus einem Streifenwagen
von einer Schießerei in der 10. Straße, bei der der Fahrer dieses Wagens, der
Polizist J.D. Tippit, ums Leben gekommen sei. Um 13:22 Uhr wird ein
Verdächtiger gemeldet, der von diesem Tatort weggerannt sein soll: ein
männlicher Weißer, um die 30, 172 cm groß, 165 Pfund, schwarzes Haar, weiße
Jacke, weißes Hemd, dunkle Hose. Um 13:24 Uhr gibt ein Beamter vom Tatort
durch, dass er einen Augenzeugen der Schüsse auf Tippit habe, der flüchtige
Verdächtige sei etwa 27, 185 groß, 165 Pfund, weißes Hemd, hellgraues
»Eisenhower-Jackett«, dunkle Hose. Dem Zeugen zufolge habe Tippit die Wagentür
geöffnet, worauf der Mann das Feuer eröffnet, ihm dreimal in die Brust
geschossen habe und dann die Straße hinuntergerannt sei.
Kurz darauf ruft beim Revier der
Schuhverkäufer Johnny Brewer aus der Nachbarschaft des Streifenwagentatorts an.
Ein sehr nervöser Mann in einem braunen Hemd habe vor seinem Laden gestanden
und sei, als ein Polizeiwagen vorbeifuhr, eilig in das
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