Jillian Hunter
Anwesen meines Neffen bleiben, als zunächst abzusehen war. Ich habe festgestellt ..."
Plötzlich verstummte das Gelächter und Gerede um sie he- rum. Der Steward wollte gerade die Preise für die besten Kos- tüme verleihen. Gäste strömten nach vorne, Chloe und Sir Edgar wurden in unterschiedliche Richtungen gedrängt.
Entschuldigend zuckte er mit den Schultern, als sie vonei- nander getrennt wurden. Sie spürte tiefe Erleichterung und hoffte, dass er an ihrem Benehmen ihm gegenüber nichts Ver- dächtiges bemerkt hatte. Die Vorstellung, unbeschwert mit dem Mann zu plaudern, der Dominic beinahe erstochen hat- te, war mehr, als sie ertragen konnte. Sie hätte ihn mit ihren eigenen Händen umbringen können.
Die Gäste klatschten begeistert über jedes vorgestellte Kos- tüm. Chloe sah, wie ihr Onkel auf sie zukam, wobei er seinen Blitz dazu benutzte, sich einen Weg zu bahnen. Lord Wolver- ton stand in entspannter Pose am anderen Ende des Ball- saals, eine breite Schulter lässig an die Wand gelehnt. Chloe bemerkte, wie er erst in ihre Richtung blickte und dann zu Sir Edgar, als versuche er, sie beide im Auge zu behalten.
Ja, es war ein gutes Gefühl, einen Freund wie den Viscount in Sichtweite zu haben, selbst wenn es stimmte, dass er ei- nen ganzen Sommer auf einem chinesischen Piratenschiff verbracht hatte. Dennoch, solange er hier war und sie be- schützte, konnte er Dominic nicht helfen. Besorgt runzelte sie die Stirn.
Würde er Dominic zur Seite stehen, wenn der den letzten Teil seines Plans in die Tat umsetzte? Selbst wenn der Viscount nur im Hintergrund die Fäden zog, musste er doch zumindest daran beteiligt gewesen sein, Sir Edgars Sturz zu planen. Wie würden sie es anstellen? Plötzlich hatte Chloe einen Kloß im Hals. Dominic hatte sehr darauf geachtet, ihr keine Details zu verraten. Sie hielt den Fächer eng umklammert. So- lange er nur wohlbehalten zu ihr zurückkam, war sie beinahe froh, nichts Genaues über seine Rachepläne zu wissen.
So leise wie ein Geist schlich Dominic sich in die dunkle Schlaf- kammer seines eigenen Hauses. Er hatte keinen Augenblick zu verlieren. Ihm blieb höchstens eine Viertelstunde, wenn er ganz sicher sein wollte. Die Dienstboten hatten sich in den Gesinderaum zurückgezogen. Er kannte ihre Gewohnheiten bis hin zu dem exakten Zeitpunkt, wo der Lakai in der langen Galerie die Kerzen löschte, bevor er sich zur Ruhe begab.
Adrian würde alles tun, was nötig war, um Sir Edgar im Au- ge zu behalten, aber Dominics Onkel war kein Narr. Seit einer Woche hatte er die Dienstboten über Dominics Freundschaft zu Adrian ausgefragt, darüber, wann sie sich zuletzt getroffen und worüber sie gesprochen hatten. Es war offensichtlich, dass der Colonel Adrians Aufenthalt in Chistlebury voller Miss- trauen beobachtete. Doch für heute bestand Adrians Haupt- aufgabe darin, dafür zu sorgen, dass Chloe kein Leid geschah. Obwohl Dominics Geliebte in Liebesdingen dazu neigte, ein
wenig übereilt zu handeln, war sie glücklicherweise sehr ver- nünftig, wenn es um ihr Überleben ging.
Der geheimnisvolle Komplize war doch nicht auf dem Ball erschienen. Vielleicht war Dominics Verdacht falsch gewesen oder die Veranstaltung nicht intim genug für ein solches Tref- fen. Aber vielleicht ahnte sein Onkel auch, dass er verdächtigt wurde, und wollte einen harmlosen Eindruck erwecken, indem er einem gesellschaftlichen Anlass beiwohnte. Wahrscheinlich hatte er seinen Kontaktmann davor gewarnt zu kommen.
Dominic würde diese Angelegenheit den Behörden überlas- sen, die für Betrug zuständig waren.
Er breitete die blutige und zerrissene Uniformjacke seines Bruders auf Edgars makellos weißem Kissen aus. Aus der kleinen Urne in seiner Hand streute er eine Spur aus weißem Sand hinaus in die Galerie bis zu seinem Porträt an der Wand. Es war Sand aus Nepal, den Samuels getreuer Diener für den Gedenkgottesdienst geschickt hatte. Er fragte sich, ob Edgar erkennen würde, was das Ganze bedeuten sollte. Es war ein Fehdehandschuh, eine Kriegserklärung.
Die leere Urne stellte er vor dem Geheimgang auf den Bo- den, der zu der unheimlichen Gruft führte, in der Dominic sich über einen Monat versteckt hatte.
Sollte das Schicksal ihm freundlicher gesonnen sein als in der Vergangenheit, würde dies die letzte Nacht sein, die er in seinem dunklen Versteck verbrachte. Und wenn das Schicksal ungnädig war? Dann würde es nur seine letzte Nacht sein.
Er schlüpfte durch den Spalt in der Wand und
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