Jillian Hunter
Werden zu spät zur Kirche kommen. Beeilt euch doch alle!"
Chloe lächelte. Pamela war sonst immer eine Langschläfe- rin, der jede Ausrede recht war, um sonntags nicht in die Kir- che gehen zu müssen. Dieser plötzliche Sinneswandel konnte nur bedeuten, dass Liebe in der Luft lag. Ihre Cousine hoffte vermutlich, Charles in der Kirche zu sehen, um die Romanze voranzutreiben, die bei dem Ball am vorangegangenen Abend ihren Anfang genommen hatte. Bei dem Gedanken verspürte sie stechende Eifersucht. Chloe würde nie eine normale Braut- werbung erleben, bei der ihr Liebster sie von einer Kirchen- bank aus wie ein Mondkalb anstarrte.
Nein, dachte sie wehmütig. Ihre eigene Brautwerbung be- stand darin, dass ein Mann, als Straßenräuber verkleidet, sie für ein geheimes Stelldichein davonzog. Mittlerweile al- lerdings hatte das Ganze durchaus begonnen, einen rosigen Schimmer der Verklärung anzunehmen. Sie konnte kaum glauben, dass sie miteinander getanzt und sich mit solcher Verzweiflung geliebt hatten. Und doch konnte sie immer noch das Gewicht von Dominics hartem Körper auf sich spüren, seine Hände in ihrem Haar und auf ihrem Gesicht.
„Wir suchen nach dem verschwundenen Schuh deiner Mut- ter", teilte Sir Humphrey seiner Tochter mit. „Die fehlgelei- tete Frau weigert sich, das Haus ohne ihn zu verlassen."
„Ich habe ihren Schuh noch vor ein paar Minuten auf der Treppe gesehen", verkündete Pamela.
„Zeigte er nach oben oder nach unten?", fragte ihre Mut- ter.
Pamela zuckte mit den schmalen Schultern. „Was macht das schon für einen Unterschied? Beeil dich doch, Mama."
Chloe ging zum Fenster hinüber und blickte nach draußen. Wo war Dominic jetzt? Sie hätte wütend auf ihn sein sollen, weil er sie in diese Situation gebracht hatte. Selbst wenn sie sich dazu entschloss, ihre Brüder um Hilfe zu bitten, gab es
keine Garantie, dass eine Botschaft, die sie jetzt schickte, rechtzeitig ankam, um ihn zu retten. Die Konfrontation mit Edgar hatte vielleicht schon stattgefunden, bevor sie London überhaupt verlassen hatten.
„Kommst du, Chloe?"
Beim Klang der Stimme ihres Onkels blickte sie sich um. Sie beide waren nun alleine im Zimmer, und Chloe konnte hö- ren, wie die Kutsche vor dem Haus vorfuhr.
„Ja. Ich bin gleich da."
„Ist vor dem Fenster irgendetwas Interessantes?", fragte er ruhig.
Sie rang sich zu einem matten Lächeln durch. „Es sieht nicht so aus. Hat Tante Gwendolyn ihren Schuh gefunden?"
Er runzelte besorgt die Stirn. „Du hast heute Morgen wirk- lich den Kopf in den Wolken. Pamela hat uns gerade eben gesagt, dass der Schuh auf der Treppe ist. Hast du es nicht gehört?"
Mit abgewendetem Blick ging sie an ihm vorbei. Ihr war bewusst, dass er sie besser kannte als jeder andere im Haus. Nach der vergangenen Nacht und mit den Gedanken bei Do- minic musste sie mehr als nur ein wenig geistesabwesend wir- ken. „Komm. Lass uns unseren Seelen zuliebe die Predigt des Pastors ertragen."
Er berührte sie sanft an der Schulter, als sie an ihm vorbei- ging. „Chloe, meine Liebe, wenn du je Hilfe benötigst, ich bin immer für dich da."
Onkel Humphrey, verwickelt in ein Netz aus Falschheit und Mord? Chloe wandte sich ihm lächelnd zu, voller Bedauern, dass ihr Geheimnis wie eine Mauer zwischen ihnen stand. „Danke. Du warst ohnehin schon freundlicher zu mir, als ich es je verdient habe."
Die Gemeinde von St. Luke's Church saß wie in Trance da. Offensichtlich hatten die Leute sich noch nicht von dem auf- regenden Maskenball des vergangenen Abends erholt. Natür- lich war es nichts Ungewöhnliches, während einer Predigt ein kleines Nickerchen zu machen. An jedem beliebigen Sonntag wurde das wüste Hämmern des Pastors auf seine Mahagoni- kanzel von sündigen Schnarchgeräuschen aus den eichenen
Kirchenbänken begleitet.
Chloe fand es unmöglich, sich überhaupt auf Pastor Grims- by mit seiner dünnen, spitzen Nase und seinen Schnallenschu- hen zu konzentrieren, obwohl sie die Vermutung hatte, dass seine Predigt über die Tugend an sie gerichtet war.
Nun, dafür war es jetzt zu spät, dachte sie ohne Bedauern.
Sie spielte mit einem der Onyxknöpfe an ihrem Handschuh herum, denn die Zeit verging im Schneckentempo. Irgendwo im hinteren Teil der Kirche fiel ein kleiner Junge beim Streit mit seiner Schwester von der Bank und wurde von seiner Mut- ter lautstark dafür geohrfeigt. Himmel, was war, wenn sie ein Kind von Dominic empfangen hatte? Wenn so etwas passierte, würden ihre Brüder
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