Jillian Hunter
jemand eine Pistole auf ihren Rücken gerich- tet hatte?
„Es muss das Gerede in der Kutsche gewesen sein", erwi- derte sie leise.
„Gerede? In der Kutsche? Du meinst, wegen der Katze, die eine Maus zum Stuhl des Pastors gezerrt hat? Ich habe dich nicht für so ein zimperliches Fräulein gehalten."
„Nicht die Katze", sagte sie leise und sehr betont.
„Dann - ah, ja." Missbilligend hob er die dichten weißen Au- genbrauen. „Wieder dieser Unsinn über den Geist. Der arme Stratfield. Ihr Weiber habt keinen Respekt vor den Toten."
Chloes Schläfen begannen zu pochen. „Respekt?" Ihr Onkel hegte Sympathien für einen Mann, der sie direkt vor seiner Nase als Geisel hielt?
„Wie blass du geworden bist, Chloe. Hast du Angst vor Geis- tern? Wenn dem so ist, kann ich dir versichern, dass Strat- fields Geist in diesem Haus niemanden verführen wird." Er lachte bei dem Gedanken. „Warum sollte er umherschleichen und im Tode das tun, was er auch im Leben hätte tun kön- nen? Der arme Mann hätte nur mit den Fingern zu schnippen brauchen, um jede beliebige unserer albernen Damen aus Chistlebury haben zu können. Außer natürlich dir und mei- ner Pamela."
Vor Chloes Augen tanzten Pünktchen. Verführung war ihr vollkommen gleichgültig. Ob Stratfield wirklich so weit ge- hen würde, sie zu erschießen? Wenn sie sich durch die Tür quetschte und losrannte, gelänge es ihr vielleicht, die Treppen hinunterzukommen und sich zu verstecken.
Aber dann stünde Onkel Humphrey immer noch auf dem Flur, ohne etwas von der Gefahr auf der anderen Seite der Tür zu ahnen. Er würde vielleicht versuchen, sich gegen Stratfield zu wehren.
„Wir sollten uns lieber Sorgen um Devon machen", fügte er nüchtern hinzu. „Geh zu Bett. Wir werden uns morgen über- legen müssen, wie wir den jungen Tunichtgut wieder auf die rechte Bahn bringen."
„Morgen", wiederholte sie wie betäubt, als er davoneilte und auf der Treppe verschwand. Würde sie am Morgen überhaupt noch leben und in der Lage sein, eine Unterhaltung zu führen? Würde sie von dem geisterhaften Galahad entehrt werden?
Sag ihm, dass der Geist von Stratfield dich als Geisel hält.
Sag es ihm, bevor es zu spät ist...
„Onkel Humphrey", rief sie, „bitte komm ..."
Ihr Onkel hörte sie nicht. Sie erkannte bereits, dass ihr Hilfe- ruf fehlgeschlagen war, bevor sie zu Ende sprechen konnte.
Sie sah nicht, wie Dominic vorsprang, eine plötzliche Be- wegung in dem Standspiegel war ihre einzige Warnung. Das Nächste, dessen sie sich gewahr wurde, war, wie er sie mit seinem ganzen Gewicht gegen die Tür drückte. Der Schlag hätte mit lautem Knallen durch das Haus gehallt, wenn die Tür nicht verzogen gewesen wäre.
Chloe war zwischen der Tür und Dominic eingeklemmt und konnte sich nicht mehr bewegen. Sie spürte die geballte Kraft in seinem Körper und hoffte, dass er nicht die Kontrolle ver- lor. Was sie anging, so blieb ihr keine andere Wahl, als vollkom- men stillzustehen und zu beten, dass sie bald aufhören würde zu zittern. Er tat ihr nicht wirklich weh, aber die Schwäche, die sie durchströmte, und die Hitze seines Körpers fühlten sich beinahe an wie ein körperlicher Angriff. Sie war sich sei- ner Männlichkeit in überdeutlicher Weise bewusst.
Hätte sie an jenem Tag im Regen nicht die verheerende Sanftheit seines Kusses erlebt, so hätte sie die Situation an- ders empfunden. Sie hätte mehr Angst vor ihm gehabt. Aber vielleicht hatte sie sich seine Sanftheit auch nur eingebildet. Selbst bei der Erinnerung daran wurde ihr schwindelig. Die sinnliche Macht, die er auf sie ausgeübt hatte, war zu greifbar gewesen.
„Ist es wirklich notwendig, so dramatisch mit mir umzu- springen?", brach es wütend aus ihr heraus.
Mit wesentlich mehr Selbstbeherrschung, als er zuvor ge- zeigt hatte, blickte er auf sie herunter. „Ich fürchte, solange Sie sich mir widersetzen, ist es das."
Bei dem leichten Druck auf ihre Taille spannte sie sich an und blickte langsam und ängstlich an sich herab. Es dauerte einige Sekunden, bis ihr bewusst wurde, dass der spitze Ge- genstand, den er in ihre Rippen drückte, keine Pistole war, sondern ein Federhalter. Ihr eigener Lieblingsfederhalter! Er besaß tatsächlich die Frechheit, sie mit einem Federhalter ge- fangen zu nehmen. Sie riss ihm nun das Sehreibutensil aus der Hand.
„Was hatten Sie an meinem Schreibtisch zu suchen?", frag- te sie voller Entrüstung.
Er trat von der Tür weg und zog sie am Arm bis in die Mitte des
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