Jillian Hunter
ihrem zu spüren, verwirrten sie so sehr, dass sie kaum damit umgehen konnte. Was, in Gottes Namen, sollte sie nur mit ihm anfangen?
„Sie benötigen einen Arzt, Lord Stratfield."
Das Gewicht seines muskulösen Körpers nahm ihr die Ba-
lance, und sie fielen in einer schwerfälligen Umarmung gemein- sam gegen den Bettpfosten. „Unter den gegebenen Umständen finde ich, Sie sollten mich Dominic nennen", murmelte er.
„Ich sollte Sie den Teufel nennen, Sir."
Er blickte zur Tür und zuckte zusammen. Anscheinend hatte der Überlebenskampf seine Sinne geschärft. „Jemand kommt. Verstecken Sie mich."
„Das werde ich nicht tun."
Er drückte die Pistole gegen ihre Schulter. „Ich würde nur ungern denjenigen erschießen, der das Pech hat, unsere freund- schaftliche Zusammenkunft zu stören."
„Das könnten Sie nicht", flüsterte sie voller Angst.
„Glauben Sie mir", sagte er mit einem kalten Blick. „Ich könnte es. Wenn ich auch nicht wirklich tot bin, so ist es doch zumindest der zivilisierte Teil von mir."
Sie befreite ihre Arme. Ihr Mund war staubtrocken. Sie glaubte ihm. Der magere, unrasierte Mann, der sie anstarrte, erinnerte nicht im Geringsten an den eleganten Aristokraten, den sie sich als Sir Galahad vorgestellt hatte. Eine Spur von drohender Gefahr hatte die unnahbare Kultiviertheit ersetzt, die Dominic Breckland früher charakterisiert hatte, und die Verwandlung erstaunte sie.
Hatte er an dem Tag, als sie sich begegnet waren, gewusst, dass sein Leben bedroht wurde? War sie an jenem Nachmittag in mehr als nur eine schlammige Pfütze hineingestolpert? Sie erinnerte sich an seine Schroffheit und seine seltsamen Be- merkungen, und plötzlich ergab es alles einen Sinn.
Jemand hatte einen brutalen Mordanschlag auf ihn verübt. Sie konnte gut verstehen, dass er Rache nehmen wollte. Aber nicht hier und nicht, indem er sie als Werkzeug für seine Ver- geltung benutzte. Und das Schlimmste daran war, dass ihre Brüder ihr nie glauben würden, dass sie sich das Ganze nicht selbst eingebrockt hatte.
Das Klopfen an ihrer Schlafzimmertür machte ihren Überle- gungen ein Ende. Sie wusste nicht, ob sie bei dem zögerlichen Grummeln ihres Onkels Erleichterung oder Angst empfinden sollte. Sie wünschte dem lieben alten Mann beileibe keinen Schaden und hielt es nicht für klug, Dominics Behauptung, dass man ihn leicht zu Verzweiflungstaten treiben könnte, auf
die Probe zu stellen.
„Mein Onkel", sagte sie leise und voller Anspannung.
Er biss die Zähne zusammen. „Wimmeln Sie ihn ab."
„Wie?"
„Das ist mir gleichgültig."
„Gehen Sie wieder ins Ankleidezimmer", wies sie ihn wider- willig an. „Er kommt nicht in mein Zimmer."
Er blickte sich abschätzend um. Offensichtlich traute er ihr nicht. „Ich werde lauschen und Sie beobachten."
„Dessen bin ich mir bewusst", entgegnete sie bissig.
Er warf ihr Korsett auf das Bett. „Ich bin zu allem bereit, um das hier zu Ende zu bringen."
Sie begegnete seinem Blick. Seine kalte Entschlossenheit jagte ihr einen eiskalten Schauder den Rücken hinunter. Er war ein Mann, der nichts zu verlieren hatte.
4. KAPITEL
Chloe sah zu, wie Dominics Schatten mit der Wand ver- schmolz, während sie zur Tür eilte, um ihrem Onkel zu antwor- ten. Ihr Eindringling mochte nicht in Sichtweite sein, aber sie spürte die dunkle Bedrohung durch seine Gegenwart doch so sicher, als würde er jeden ihrer Schritte beobachten. Seine Worte hallten in ihren Gedanken immer noch nach. Würde er ihr oder ihrem Onkel wirklich Schaden zufügen? Es war bes- ser, seine Gewaltbereitschaft nicht auf die Probe zu stellen. Ihr Onkel blickte sie besorgt an, als sie die Tür einen Spalt weit öffnete. Mit etwas Glück würde seine Intuition ihm sa- gen, dass hier etwas sehr im Argen war. Er würde ihre Angst spüren und schnell Hilfe holen lassen.
„Chloe", sagte er geradeheraus, „Ich hätte dich nicht mehr gestört, aber wir haben ein Problem, das nicht bis zum Mor- gen warten kann."
Sie presste ihre feuchte Handfläche gegen die Tür und be- tete, dass er die Panik in ihren Augen sehen würde. Sie konnte nur hoffen, dass der „Geist" von Stratfield in der Nähe des Hauses gesichtet worden war. Vielleicht würde ihre Tante um des Anstandes Willen das Haus evakuieren lassen. Zweifels- ohne bekäme sie einen Anfall, wenn sie erriet, dass der bos- hafte Spuk sich im Schlafzimmer ihrer Nichte versteckte. Bei dem Gedanken, wie Gwendolyn es mit dem mürrischen Geist aufnahm, musste Chloe
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