Jillian Hunter
beinahe lächeln.
Ihr Onkel zögerte. Er hielt den ergrauten Kopf gebeugt. „Darf ich hereinkommen?"
Hinter ihr herrschte ominöses Schweigen. Chloe stellte sich vor, wie Lord Stratfield sie mit seinen stählernen Muskeln wie- der gefangen hielt und die Luft aus ihrem Körper presste wie
aus einem Blasebalg. Sicherlich hatte er sich nicht immer so barbarisch benommen.
„Nein." Sie schüttelte den Kopf. Ihre Stimme brach. Es war so verlockend, die Wahrheit zu sagen. Und so gefährlich für sie beide. „Ich - ich bin unbekleidet, Onkel Humphrey."
„Oh, du meine Güte", erwiderte er peinlich berührt. „Oje. Nun, es ist an der Zeit, zu Bett zu gehen, und ich hätte dich nicht mehr gestört, aber das da eben war der Magistrat, der wie ein Schmied gegen die Tür gehämmert hat. Es scheint, als wäre auf der Cooper's Bridge erst vor einer Stunde eine Kut- sche überfallen worden. Dieses Mal raubte der Straßenräuber nur die Handschuhe und Strumpfbänder der Dame."
Einen Augenblick lang vergaß Chloe ihre schreckliche Si- tuation und musterte ihren Onkel besorgt. „Du glaubst doch nicht, dass Devon ..."
„Doch, das tue ich." Er begann, auf dem fadenscheinigen Teppich des Flurs auf und ab zu gehen, und blickte in das dunkle Treppenhaus herunter, während er weitersprach. „Er zeigte mir eine Skizze, Chloe. Es war das exakte Ebenbild die- ses elenden Schurken. Es scheint, als hätte er es wieder getan und ein weiteres Verbrechen begangen, während dein verteu- felter Bruder Grayson noch kaum die Spuren des ersten ver- wischt hat."
Chloe unterdrückte einen Seufzer. Sie wusste genau, wann ihr ältester Bruder Grayson aus der Reihe der Teufel in die der Engel gewechselt hatte. Als er in ihrer bezaubernden Schwä- gerin Jane endlich jemanden gefunden hatte, der ihm gewach- sen war. Nun, vielleicht würde Chloe zu einem späteren Zeit- punkt besser mit ihrer Wut und Enttäuschung über Devons Benehmen fertig werden, falls diese neueste Missetat denn wirklich auf sein Konto ging. Vielleicht würde sie verstehen, welche Dämonen ihn zu diesen Dummheiten trieben. Aber reichte es für den Augenblick nicht, dass ein Irrer in ihrem Zimmer Zuflucht suchte? Devon würde sich einfach selbst um sich kümmern müssen. Chloe hatte genug mit ihrem eigenen persönlichen Dilemma zu tun.
„Weiß Tante Gwendolyn etwas davon?", fragte sie, einer Eingebung folgend.
„Gütiger Himmel, nein", erwiderte Humphrey. „Ich habe
Angst, es ihr zu sagen, aber ..." Er blieb stehen, wandte sich langsam um und versuchte, ihr über die Schulter zu blicken. „Ich dachte, vielleicht ist Devon zu dir gekommen? Weißt du, Chloe, ich bin mir darüber im Klaren, dass er dich hin und wieder besucht. Nein, Liebes, schau nicht so besorgt. Ich wür- de es nie deiner Tante oder der Obrigkeit erzählen. Das soll unser Geheimnis bleiben."
Noch ein Geheimnis. Genau das, was Chloe brauchte, um ihr Gewissen noch ein wenig mehr zu belasten und ihr Leben noch komplizierter zu gestalten.
„Unser Geheimnis?" Chloe meinte einen Luftzug in ihrem Nacken zu spüren - eine bedrohliche Erinnerung, dass Strat- field jedes Wort mit anhörte, sie nicht einmal ausatmen konn- te, ohne dass er es bemerkte. „Was für ein Geheimnis, Onkel Humphrey?", fragte sie verständnislos.
„Na, deine Besuche von Devon." Er warf ihr einen eigen- artigen Blick zu. „Ich bin nicht böse auf dich, Chloe. Es ist verständlich, dass du deinen Bruder schützt. Aber du musst ihn warnen. Es ist gut möglich, dass dieses Haus unter Beob- achtung steht. Chistlebury ist weit weg von London ..."
„Das brauchst du mir ganz bestimmt nicht zu sagen."
Ihr Onkel runzelte die Stirn. „Die hiesigen Behörden sind nie wirklich ausgelastet. Der dumme Junge wird vermutlich erschossen, bevor irgendjemand auch nur bemerkt, dass er ein junger Lord ist, der lediglich harmlosen Unfug anstellt. Handschuhe und Strumpfbänder, Chloe. Nun gut. Wenigstens kam dieses Mal niemand zu Schaden."
Sie lehnte die Stirn gegen die Tür. Die Gewissheit, dass Stratfield auf sie wartete, machte es ihr unmöglich, sich auf die Unterhaltung zu konzentrieren. Sicherlich beabsichtigte er nicht, die Nacht in ihrem Zimmer zu verbringen. „Devon ist nicht hier."
„Sag, ist bei dir auch alles in Ordnung, Chloe? Du siehst recht unwohl aus. Du wirst doch nicht wieder krank werden, oder?"
Die Tür zum Ankleidezimmer knarrte laut. Hatte ihr Onkel das nicht gehört? Konnte er nicht an der Angst in ihren Augen erkennen, dass
Weitere Kostenlose Bücher