Jillian Hunter
zugleich auch ihren besten Freund verloren.
Aber dieser Mann war offensichtlich nicht in der Verfas- sung, irgendjemandem zu trauen, und Chloe hätte möglicher- weise sogar Mitleid mit ihm empfunden, wenn er nicht auf so abscheuliche Art und Weise die Kontrolle über ihr Leben an sich gerissen hätte. Wie er jetzt beispielsweise wieder ihre Truhe durchstöberte und ohne jeglichen Anstand in ihren in- timsten Wäschestücken wühlte!
„Was glauben Sie, was Sie da tun?"
„Ich suche nach einem Negligé, das ein bisschen weniger durchsichtig ist. Ihr Mangel an Bekleidung ist eine Ablen- kung, die ich in meinem momentanen angeschlagenen Zu- stand nicht in der Lage bin zu ignorieren."
Chloe hielt inne. Sie hätte diese Aussage möglicherweise sehr interessant gefunden, wenn sie die Zeit gehabt hätte, da- rüber nachzudenken. Er fand sie anziehend. Doch offensicht- lich würde er sich dadurch nicht an dem hindern lassen, was er tun musste.
„Was stimmt denn mit dem Negligé nicht, das ich trage? Es ist noch nicht einmal einen Monat alt."
Er blickte verzweifelt hoch. „Seien Sie dankbar für die Fins- ternis heute Nacht. Wenn Ihr idiotischer Verehrer Sie richtig gesehen hätte, wäre er diesen Baum im Handumdrehen hi- naufgeklettert. Ich hätte mich auch noch um ihn kümmern
müssen, und ihn hätte ich nicht so nett behandelt wie Sie."
„Nett? Es ist sicherlich schrecklich, in Ihrer Gesellschaft zu sein, wenn Sie glauben, schlechte Laune zu haben." Sie kniete sich neben ihm hin, um einen ihrer Lieblingsfächer aus seinen Händen zu retten. „Und wenn Sie nicht die ganze Zeit über hinter mir geschimpft hätten, wäre ich vielleicht geis- tesgegenwärtig genug gewesen, um mich anständig anzuklei- den."
„Wären Sie zu ihm hinuntergegangen, wenn ich nicht hier gewesen wäre, um zu schimpfen? Nein. Sie müssen mir nicht antworten. Ihre Brüder hatten zweifelsohne guten Grund, Sie zu verbannen."
Sie umklammerte den Fächer, als wollte sie ihn zerquet- schen. „Ich wurde der Gesundheit meiner Lunge wegen aufs Land geschickt. Ich neige zu Hustenerkrankungen."
„Sie wurden beim Küssen erwischt. Mit einem jungen Lord, nicht wahr?"
Chloe hatte plötzlich das Gefühl, ihm vollkommen schutz- los ausgeliefert zu sein, nackt vor einem Mann zu stehen, den sie unmöglich täuschen konnte. „Ich habe keine Ahnung, wo- her Sie diese Informationen haben."
„Es muss Ihnen genügen, dass ich sie habe."
6. KAPITEL
Dominic schloss den Deckel der Truhe. Er unterdrückte ein fiebriges Zittern. Seiner Vermutung nach vergiftete eine Ent- zündung seinen Körper. Für kurze Zeit benötigte er Chloes Hilfe, das war richtig. Wenn die Durchführung seiner Pläne gelingen sollte, war er auf ihre Diskretion angewiesen. Hätte er eine Wahl gehabt, wen er sich für seinen Rachefeldzug als Partner wünschte, so wäre sie ganz gewiss nicht auf diese wi- derspenstige Schönheit im Exil gefallen.
War sie überhaupt zu Verschwiegenheit fähig?
Konnte er ihr trauen?
Es war ein Fehler gewesen, vorhin ihren Bruder zu erwäh- nen. Sie hatte sofort erkannt, dass er einen Verdacht hatte, und so war es ihm unmöglich gewesen, sie zu täuschen. Ja, Dominic besaß Anhaltspunkte dafür, dass Brandon und sein eigener jüngerer Bruder Opfer eines herzlosen Komplotts ge- worden waren. Nein, er glaubte nicht an die saubere Version des Angriffs durch rebellische Gurkhas, die von der ehrenhaf- ten East India Company vertreten wurde. Konnte er seinen Verdacht beweisen? Noch nicht ganz.
Verdammt, was sollte er nur mit ihr anfangen?
Langsam richtete er sich auf. Dabei spürte er, dass sie ihn so aufmerksam beobachtete, als wäre er ein verwundetes Tier. Er konnte es ihr nicht verübeln. Im vergangen Monat hatte er angefangen, mehr Ähnlichkeit mit einem Tier als mit einem Mann zu haben, er handelte nur noch nach seinen Instinkten. Er nahm ihre Hände: Ihre Finger waren so viel kleiner als die seinen, und doch waren sie warm und kräftig, als sie sich sei- ner Berührung widersetzte.
„Sehen Sie mich an." Der Beschützer, der er einst gewesen
war, hätte ihr unschuldiges Feuer in Ehren gehalten. Der Teu-
fel, zu dem er geworden war, wollte ihre Glut anfachen, bis sie
verbrannte. „Kann ich Ihnen vertrauen?", fragte er, und seine
Finger umklammerten ihre Hand noch fester, als wollte er der
Anspannung entgegenwirken, die er darin fühlte.
„Ich weiß es nicht."
Es war eine ehrliche Antwort, die ihn mit Bedauern erfüllte.
Wenn er sich
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