Jillian Hunter
Sinne abgelenkt. Es war nicht überraschend, dass andere Männer von ihren vollen Lip- pen Küsse stahlen und unter ihrem Schlafzimmerfenster he- rumlungerten. Diese großen Augen konnten einen Mann mit Leichtigkeit auf unanständige Gedanken bringen. Er hielt es sogar für sehr wahrscheinlich, dass sie sich genau in diesem Moment mit ihrem Bewunderer im Garten vergnügt hätte, wenn er nicht da gewesen wäre.
„Mein Wildhüter hielt mich für einen Wilderer", kehrte er zu ihrer Frage zurück, „und hat mich von meinem Anwesen ge- jagt."
„Warum haben Sie sich nicht zu erkennen gegeben?"
Er lächelte. „Weil ich ein Wilderer bin, der gerade dabei ist, seinem Mörder eine Falle zu stellen. All seiner Klugheit zum Trotz hat Finley mich nicht erkannt."
„Wenn man bedenkt, wie Sie aussehen", erwiderte Chloe mit einer Grimasse, „überrascht mich das nicht."
„Nun ja, wir können schließlich nicht alle verführerische Korsetts tragen und Dorfkonzerte mit unserer Anwesenheit verschönern, nicht wahr?"
Chloe starrte gedankenverloren an ihm vorbei auf die Um- risse seines massiven, elisabethanischen Hauses. Er behaup- tete, gut informiert zu sein. Hatte er auch von dem Gerücht gehört, dass seine Mätresse in den Tagen nach seiner Beerdi- gung häufig zu Gast dort gewesen war? In den höheren Krei- sen wurde gemunkelt, dass die Frau Dominics Cousin Edgar über die persönlichen Angelegenheiten ihres Liebhabers un- terrichtet hatte. Aber natürlich glaubten die Leute immer gern das Schlimmste.
Vor allem als die Dame spätabends dabei beobachtet wur- de, wie sie das Anwesen besuchte.
„Weiß Lady Turleigh, dass Sie noch leben?", fragte sie, oh- ne ihn anzublicken.
„Nein." Sein resignierter Tonfall verbat weitere Nachfra- gen.
„Es scheint grausam", sagte sie, „der Frau, die Sie liebt, nicht zu sagen, dass Sie nicht tot sind."
Der Blick, mit dem er sich ihr zuwandte, brachte sie zum Verstummen. Ja, sie hatte auf eine Reaktion gehofft, auf ir- gendeinen Anhaltspunkt für seine Gefühle, aber nicht auf die plötzliche Verletzlichkeit, die sie dort sah, das rohe Leid eines Mannes, der emotional bis auf die Knochen entblößt worden war.
„Die Liebe", sagte er in einem leichten Tonfall, der seinen Ausdruck Lügen strafte, „ist ein grauenvolles Gefühl, das von Dichtern und Idioten, die den Kopf in den Wolken haben, voll- kommen überschätzt wird."
„Es ist gut, dass nicht jeder Ihre zynische Weltsicht teilt", entgegnete Chloe nach kurzem Zögern.
„Die meisten Menschen hatten noch nicht das Pech, in ih- rem eigenen Bett ermordet zu werden."
„Das ist wahr", gab sie zu, „aber daran trägt Ihre Geliebte doch nicht die Schuld, oder?"
Wieder sagte sein Schweigen mehr als tausend Worte, viel- leicht sogar mehr, als Chloe wissen wollte. War die schöne Lady Turleigh an dem Mordversuch beteiligt gewesen? Nein. Der Gedanke an eine wohlerzogene Frau, die im Bett lag, während ihr Liebhaber erstochen wurde, war so widerwär- tig, dass Chloe es vorzog, zu glauben, dass seine Reaktion le- diglich Ausdruck seines zynischen Wesens war.
„Ihr Bruder hat gemeinsam mit meinem Bruder Brandon gekämpft", stellte sie fest, bemüht, das Thema zu wechseln. „Heath sagte mir, dass Sie Nachforschungen über den Angriff auf die beiden in Nepal angestellt haben."
Dominics Gesicht verfinsterte sich noch mehr. „Ja", erwi- derte er angespannt.
„Nun, was haben Sie darüber in Erfahrung gebracht?", fragte sie fordernd.
„Vermutlich wenig mehr, als Sie ohnehin schon wissen", antwortete er ausweichend.
Chloe studierte neugierig sein Profil. Sie hatte sich schon im- mer gefragt, ob vielleicht mehr hinter Brandons Tod stecken
konnte als der angebliche Angriff von rebellischen Gurkhas auf seine Truppe. Sie hatte den Verdacht, dass ihre Brüder die Wahrheit vor ihr verheimlichten. Doch als junge Frau aus ei- ner Familie voller Männer, die über jede ihrer Bewegungen wachten, konnte sie kaum selbst nach Nepal segeln, um Nach- forschungen anzustellen.
„Sie wissen etwas", sagte sie leise.
„Ich weiß jedenfalls", erwiderte er und trat vom Fenster weg, um sich auf den Boden zu knien, „dass ich Ihnen für ei- nen Abend eindeutig genug gesagt habe."
„Erzählen Sie es mir, und ich helfe Ihnen gerne."
„Es gibt nichts zu erzählen", sagte er knapp.
Es gab etwas, das wusste sie, ohne nachzudenken. Schon allein deswegen würde sie ihm helfen. Brandon war ihr mehr als ein Bruder gewesen. Sie hatte mit ihm
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