Jillian Hunter
alles dransetzen müssten, den Mörder zu fangen."
Ihr Onkel legte die Zeitung beiseite. „Das ist das erste Mal, dass heute irgendjemand etwas Intelligentes gesagt hat."
„Und etwas Unpassendes", fügte Tante Gwendolyn belei- digt hinzu. „Mord zu so früher Stunde."
Niemand sagte etwas - keiner von ihnen hatte den Mut, da- rauf hinzuweisen, dass Ihre Ladyschaft das unpassende The- ma selbst aufgebracht hatte. Stattdessen hielt Onkel Humph- rey wieder die Zeitung vors Gesicht, um Chloe in deren Schutz ein tonloses: „Es ist alles überaus seltsam" zuzuwispern.
Chloe wollte nur zu gerne wissen, was er dachte, aber selbst ihr aufgeschlossener Onkel wäre entsetzt gewesen, wenn er herausfand, was sie getan hatte.
Dass sie sozusagen die Nacht mit einem Mann verbracht hatte, der offenbar bei manchen so viel Hass geweckt hatte, dass ihn jemand hatte erstechen wollen. Ein Mann, dessen Wille so stark war, dass er sich aus dem Grabe erhoben hatte, um Rache zu nehmen.
Was sollte sie von ihm halten? Das Dörfchen Chistlebury schien gespalten zu sein - in jene, die sein Gedächtnis in Eh- ren hielten, und jene, die ihn verabscheuten. Keine der beiden Seiten wäre überrascht, wenn herauskam, dass sein „Geist" Lady Chloe Boscastle mitten in der Nacht besucht hatte.
Gleich und gleich gesellt sich gern, würden sie sagen.
Und vielleicht hatten sie damit sogar recht.
Nach dem Frühstück entschuldigte Chloe sich, um das gestoh-
lene Essen möglichst unauffällig in der chinesischen Vase im
Flur zu verstecken. Dann ging sie in dem großen Park spazie-
ren. Unwillkürlich fand sie sich unter dem Schauplatz ihres
jüngsten Verbrechens wieder, ihrem eigenen Schlafzimmer-
fenster. Der Gedanke daran, dass Dominic sich in ihrem Zim-
mer versteckte, verursachte erneut Panik bei ihr. Ob er nun
ihr Gefangener war oder nicht, sie musste ihn in jedem Fall
loswerden.
Aber wie genau sollte sie das bewerkstelligen? Er benötigte
Hilfe. Doch er hatte ihr untersagt, einen Arzt zu holen, und
sie konnte kaum einen nach oben schmuggeln, ohne dass der
gesamte Haushalt es bemerkte, wenn nicht sogar das ganze
Dorf. Sie dachte darüber nach, ob es klug wäre, ihren Onkel
um Rat zu bitten. Aber damit würde sie die Rachepläne des
Viscounts gefährden und ihr Versprechen ihm gegenüber bre-
chen. Es war besser, wenn sie ihm half, wieder auf die Beine
zu kommen, und er aus ihrem Leben verschwand.
Zögernd lenkte sie ihre Schritte zum Stall. Vielleicht sollte
sie zur Apotheke gehen. Aber eine skandalumwitterte junge
Dame, die nach einer Salbe fragte, mit der man eine Stich-
wunde behandeln konnte, würde mit Sicherheit Aufmerksam-
keit erregen. Sie durfte keine Zeit verlieren: Sie musste den
Geist austreiben, der die Kontrolle über ihr Leben übernom-
men hatte. „Guten Morgen, Lady Chloe", sagte der Stallbursche höflich,
als er sie in der Tür sah. „Möchten Sie heute früh gerne ausrei- fen?"
Chloe riss sich von ihren Gedanken los. Der kräftige jun- ge Mann striegelte gerade eifrig Pamelas kastanienbraune Stute. Chloe atmete tief durch und erinnerte sich an die böse Schnittwunde, die das Tier vor ein oder zwei Wochen von ei- nem Zusammenstoß mit dem Zaun davongetragen hatte. Das Hinterbein des Tieres war großartig verheilt.
„Was war das eigentlich für ein Zeug, das du ihr aufs Bein geschmiert hast, als sie verletzt war, Danny?"
„Eine Salbe aus Öl und Kräutern, die ich jedes Jahr bei den Zigeunern kaufe, Mylady."
Sie musterte ihn nachdenklich. „Es scheint auf jeden Fall geholfen zu haben."
„Es gibt nichts Besseres. Ich habe das Zeug selbst benutzt, als ich bei einem Boxkampf auf dem Jahrmarkt verletzt wur- de." Er wischte sich die Wange mit dem sehnigen Unterarm ab und deutete mit dem Striegel auf einen Tontopf und eine grüne Flasche auf dem groben Regal über ihm an der Wand. „Ich glaube, diese Salbe und das Tonikum heilen so ziemlich alles."
Chloe betrachtete die dunkle Glasflasche fasziniert. Sie fragte sich, ob sie sich traute. Ließ Stratfield ihr eine Wahl? Glaubte dieser arrogante Kerl wirklich, nur weil er einmal dem Tod von der Schippe gesprungen war, würde er das auch weiterhin tun?
Sie wartete einige Minuten, bis Danny draußen auf die Kop- pel ging, bevor sie die Zigeunermittelchen nahm. Ihr Mund war staubtrocken, als sie zum Haus zurückkehrte und das versteckte Essen aus der Vase holte. Wenn jemand sie frag- te, warum sie Frühstückswürstchen und ein Ekel erregendes
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